1. Die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Hessen war sinnvoll und wichtig. Trotz mancher Mängel und zahlreicher Behinderungen haben die dort tätigen Abgeordneten und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Erkenntnisse erzielt und öffentlich machen können, die bei einer rein internen Untersuchung keine Aufmerksamkeit gefunden hätten. Dies ist aber auch der Begleitung der Ausschussarbeit durch NSU-Watch und einige Presseorgane zu verdanken.
2. Die Zusammenarbeit von Parlamentariern und zivilgesellschaftlichen Initiativen hat sich aus unserer Sicht bewährt. Die Entwicklung von verbindlichen Kommunikationszusammenhängen zwischen Parlamentariern und außerparlamentarischen, ehrenamtlich tätigen Initiativen über das Ende des NSU-Untersuchungsausschusses hinaus erscheint uns anstrebenswert.
Eine Zusammenstellung der offen gebliebenen oder neu aufgetauchten Fragen im Zusammenhang mit dem Mordfall Yozgat, vor allem aber auch hinsichtlich der rechtsextremistischen und neonazistischen Strukturen in Nordhessen (z.B. zur Rolle von Corynna Görtz), sollte von NSU Watch Hessen auf der Basis der Protokolle aller Ausschuss-Sitzungen angefertigt werden. Die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT kann diese Liste um ihre weiterhin offenen Fragen ergänzen (z. B. um die Frage, wer aus welchen Gründen seine Hand über Temme hielt bzw. hält). Der Austausch über eine solche Liste kann zunächst zwischen den beiden Initiativen abgestimmt und interessierten Mitgliedern des hessischen Untersuchungsausschusses als Arbeitsgrundlage zur Verfügung gestellt werden. In welchen Strukturen diesen Fragen zukünftig im Einzelnen nachgegangen werden kann/soll, müsste jeweils konkret diskutiert werden – siehe im Übrigen Pkt. 5 (‚Stiftung‘).
3. Die unterschiedlichen Ebenen des Behördenversagens dürfen unserer Ansicht nach bei seiner Aufarbeitung und der Formulierung entsprechender Konsequenzen auf keinen Fall aus dem Blick geraten. Sie bedürfen jeweils spezifischer Gegenstrategien. Das finale Erliegen jeglicher Aufklärung wurde durch Vorgaben und Verhinderungsstrategien vorgesetzter Dienstbehörden des Verfassungsschutzes und durch aktives Eingreifen der politischen Führung (Verweigerung der Aussagegenehmigung der V-Leute durch Minister Bouffier etc., siehe dazu auch Pkt. b und c) verursacht.
3a) Justiz und Polizei haben bei der Untersuchung des Mordes an Halit Yozgat schwerwiegende systematische Fehler begangen. Sie sind frühen Hinweisen auf ausländerfeindliche Motive der Tat nicht nachgegangen, haben über eine lange Phase einseitig ermittelt, bei den Ermittlungen die Schuld von dem/den Täter/n auf das Opfer verschoben und vor allem die Familie des Opfers ausgeforscht. Dabei sind beide Instanzen des Hessischen Staates über die rechtsstaatlichen Grenzen gegangen. Die rechtlich gebotene Information der Betroffenen über die Überwachungsmaßnahmen fehlt bis heute. Ebenso fehlt eine formelle Entschuldigung der Justiz für die unrechtmäßigen Überwachungsmaßnahmen. Die bei den Vernehmungen im Ausschuss zutage getretene enge Verzahnung der Staatsschutz-Abteilungen der Polizei mit den örtlichen Zweigstellen des Landesamtes für Verfassungsschutz halten wir für ausdrücklich vom Grundgesetz und der Hessischen Landesverfassung verboten.
Der Angabe der Familie Yozgat, dass man auch nach offiziellem Abschluss der Ermittlungen weiter unter Beobachtung stand, sollte nachgegangen werden. Nach einer internen Untersuchung sollten die Präsidenten der Landesbehörden gegenüber dem Hessischen Landtag erklären, ob diese Beobachtung durch hessische Stellen von Justiz, Polizei oder Verfassungsschutz durchgeführt, genehmigt oder zugelassen wurde. Es sollte eine neutrale Ombudsstelle des Landtags für Opfer geben, die sich von der Polizei zu Unrecht verfolgt oder beschuldigt fühlen. Wie in anderen Bundesländern auch müssen in Hessen Polizei und Staatsanwaltschaft scheinbar ‚erledigte‘ Verfahren zu ungeklärten Todesfällen und schweren Körperverletzungen, die nach Angaben der Opfer rassistisch oder politisch motiviert sein könnten, erneut untersuchen. Dabei sollte sichergestellt werden, dass diese Untersuchungen durch qualifizierte Kollegen anderer Dienststellen erfolgt.
3b) Der abstrakte und pauschalisierte Vorwurf eines ‚Institutionellen und strukturellen Rassismus‘ reicht unseres Erachtens nicht aus, um das Behördenversagen bei der Aufklärung der NSU-Morde umfassend zu beschreiben. Zum einen erscheint uns die undifferenzierte Verwendung des Rassismus-Begriffs selbst in der Negation problematisch. Darüber hinaus enthält der Begriff eine Verengung von voreingenommenem resp. vorverurteilendem Behördenhandeln auf ethnisch motivierte Vorurteile und blendet andere, ebenso wirkungsmächtige Stereotypen und Vorurteilsstrukturen (z. B. soziale, politische oder genderbezogene) explizit aus
Wir bestreiten nicht, dass rassistisch geprägte Stereotypen bei den Ermittlungsbehörden weit verbreitet sind und Handlungsstrategien geprägt haben. Das komplette Versagen bei der Aufklärung der NSU-Morde lässt sich allerdings nur aus einem Bündel unterschiedlicher Ursachen erklären. Dazu gehören die in Exekutive und Justiz verbreitete, auch historisch tradierte Blindheit beim Blick nach rechts, ein ausgeprägter Korpsgeist, der Kritik von ‚außen‘ nicht zulässt, die Verselbständigung organisationslogischer Prozesse innerhalb der Sicherheitsbehörden (vgl. dazu auch M. Pichl 2018) , vor allem aber die systematische Verhinderung der Aufklärung durch massive Interventionen von Seiten der Politik und des Verfassungsschutzes.
3c) Auf der operativen Ebene der Ermittlungsbehörden lassen sich im Fall Yozgat im Anfangsstadium der Ermittlungen durchaus (individuell unterschiedlich motivierte und ausgeprägte) Aufklärungsabsichten nachweisen, auch wenn sie nicht hinreichend objektiv ‚in alle Richtungen‘ gingen. Solche – wenn auch unzureichenden und letztlich steckengebliebenen – Ansätze sollten im Gesamtkontext nicht übersehen werden. Zu analysieren wäre, ob und ggf. wie weit sich hier Ressourcen zur Aufarbeitung von Intransparenz und strukturellen Mängeln im Behördenhandeln finden lassen.
Hinsichtlich der Rolle von diskriminierenden Vorurteilsstrukturen und Stereotypen sowie daraus resultierenden einseitigen Vorgehensweisen bei Polizei und Justiz könnte die Weiterentwicklung eines differenzierenden Ansatzes produktiv sein, wie ihn etwa der frühere Leiter der MK Café, Helmut Wetzel, im HNA-Interview am 29. 12. 2017 versucht. Zu den politisch und strukturell zu ziehenden Konsequenzen vgl. auch Pkt. 4 und 5.
4. Die Verwicklung des Hessischen Verfassungsschutzes und/oder anderer deutscher Geheimdienste in den Mordfall Halit Yozgat ist allein durch die Anwesenheit des Verfassungsschützers Andreas Temme offenkundig. Weitere Indizien dafür sind die abgehörten Telefongespräche Temmes mit Kollegen (z. B. „wenn ich weiß, da passiert etwas, gehe ich da nicht hin“…), die Vernichtung sowie die verzögerte und unvollständige Herausgabe von Beweismaterial, die Entfernung des Panzerschranks der Kasseler Zweigstelle, die Verweigerung der Aussagegenehmigung von Temmes V-Leuten sowie die direkte Kommunikation des Innenministeriums und der Abteilungsleiterin Iris Pilling unter Umgehung des Dienstweges mit Temme sowie dessen Beförderung im Anschluss an seine Versetzung.
4a) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Verfassungsschutz seinerzeit in einem rechtsfreien Raum agiert hat und Aufklärungsbemühungen bis heute torpediert. Durch das V-Leute-System hat er, auch in Hessen, die rechte Szene nicht nur alimentiert, sondern auch zur Herausbildung und Verfestigung neonazistischer Netzwerke beigetragen. Eine Aufarbeitung der im Rahmen der Ausschussarbeit zutage getretenen strukturellen Problematiken und der Verstrickungen zumindest von Teilen der Verfassungsschutz-Ämter in den NSU-Komplex ist bislang vollständig unterblieben. Die demokratische Kontrolle des hessischen Verfassungsschutzes wird durch den von Schwarz-Grün vorgelegten Entwurf für ein neues Verfassungsschutz-Gesetz in keiner Weise verbessert. Stattdessen ist eine schleichende Aufwertung des VS zu beobachten (finanziell, personell, hinsichtlich seiner Befugnisse, z. B. der Regelüberprüfung von Mitarbeiter/innen neuer Demokratie-Initiativen).
4b) Wir lehnen die Ausweitung der Rechte des Verfassungsschutzes entschieden ab, wie sie im neuen Verfassungsschutzgesetz zur Ausspähung von hessischen Bürgerinnen und Bürgern vorgesehen sind. Ebenso sind wir gegen die im Gesetzentwurf und den entsprechenden Verordnungen definierte ‚Extremismusklausel‘. Auch soll die parlamentarische Kontrolle des Verfassungsschutzes nach dem vorgelegten Entwurf nicht hinreichend verbessert werden. Die Regelüberprüfung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Demokratie-Initiativen wollen wir verhindern. Beide Vorhaben der schwarz-grünen Koalition in Hessen widersprechen den Bestimmungen des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Landes Hessen nicht nur dem Geiste, sondern auch dem Buchstaben nach. Dass Hessen einen Versuch macht, Bürgerrechte einzuschränken und Demokratie-Initiativen zu drangsalieren, lässt sich nicht mit Erkenntnissen aus dem NSU-Untersuchungsausschuss begründen. Als Erklärung bleibt einzig ein autoritäres Staatsverständnis der Regierungsparteien von CDU und Grünen. Musterklagen gegen diese Regelungen werden wir unterstützen.
Im Rahmen der überfälligen grundlegenden Reform des Verfassungsschutzes fordern wir die Verbesserung der parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten und die Abschaffung des bisherigen V-Leute-Systems.
5. Wir schlagen die Gründung einer Stiftung für politische Bildung (evtl. Halit-Yozgat-Stiftung?) zur zivilgesellschaftlichen Aufarbeitung des NSU-Mordes in Hessen – ausgestattet mit Landesmitteln – vor. Diese Mittel sollten für die nächsten 3 Legislaturperioden zugesagt und durch entsprechende Verpflichtungsermächtigungen in den kommenden Haushalten abgesichert werden.
Die Stiftung für politische Bildung sollte unserer Meinung nach drei Aufgabengebiete haben:
- Sicherstellung eines angemessenen Andenkens an das Mordopfer und andere Opfer von Neonazi-Gewalt und Unterstützung von deren Familien.
- Beiträge zur Aufklärung nach wie vor ungeklärter Umstände der Tat und der Rolle hessischer Behörden, etwa durch Unterstützung entsprechender Recherchen und Entwicklung von dafür geeigneten nichtinstitutionellen Strukturen
- politische Bildung zur Stärkung eines demokratischen Bewusstseins und zur Prävention gegen Neonazi-Umtriebe in Kassel und Nordhessen in Kooperation und Abstimmung mit geeigneten anderen Akteuren (z.B. MBT Kassel, lea Bildungsgesellschaft etc.). Vgl. im Übrigen Ideenskizze zur Gründung einer Halit-Yozgat-Stiftung, die von uns jedoch noch weiterentwickelt wird.
6. Unabhängig vom oben Gesagten halten wir eine Verstärkung des historisch-politischen Unterrichts in hessischen Schulen und der entsprechenden Lehrangebote an hessischen Hochschulen sowie der außerschulischen Demokratieerziehung in Hessen für dringend notwendig.