In seiner 33. Sitzung am 7.10.2022 vernahm der Untersuchungsausschuss UNA 20/1 (Dr. Walter Lübcke) zwei Zeugen und zwei Zeuginnen aus dem Umfeld des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen. Der ehemalige Präsident des Landesamts, Roland Desch, offenbarte sich als Zeuge von großer Ahnungslosigkeit und Erinnerungsschwäche. So behauptete er, seine Behörde habe alles getan, um eine Waffenbesitzkarte für Markus H., den Kumpel des Lübcke-Mörders Stefan Ernst, zu verhindern. „LfV Hessen versuchte, Erkenntnisse der Waffenbehörde zur Verfügung zu stellen. Was nicht von Erfolg gekrönt war.“ Das stellt die bekannten Tatsachen jedoch auf den Kopf. In Wirklichkeit hat die Kasseler Genehmigungsbehörde die Waffenbesitzkarte für H. verhindern wollen, ist jedoch vor dem Verwaltungsgericht gescheitert, weil der Hessische Verfassungsschutz seine Erkenntnisse über rechtsradikales Onlineverhalten von Markus H. dem Gericht nicht preisgab.
Auch ließ Desch ein Verfahren zu, in dem nach Bekannt-Werden des NSU in 2011 über tausend Akten von Rechtsradikalen für die Auswertung gesperrt wurden, unter ihnen die Akte von Stefan Ernst mit einem weit mehr als zehn Jahre langen Register von Gewalttaten und Verurteilungen. Erster einschlägig rechter Eintrag ist der rassistische (eventuell schwulenfeindliche) Messerangriff am Wiesbadener Hauptbahnhof 1992. Letzter einschlägiger Eintrag vor dem Mord war der Landfriedensbruch bei einer DGB-Demo am 1. Mai 2009 (Urteil 2010).
Um diese Sperrung ging es auch bei der Vernehmung des Zeugen Weidner, ehemaliger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, zuständig für Waffenbesitz von Rechtsradikalen. Er wurde zum zweiten Mal vernommen, weil er bei seinem ersten Erscheinen vor dem Ausschuss nur zum Thema Waffen befragt werden durfte. Die enge Auslegung des Beweisbeschlusses durch den Vorsitzenden verhinderte damals, dass er auch über Stefan Ernst befragt werden konnte. Nun bestätigte er die Angaben der Zeugin Rehwald aus dem Juli 2022, dass er sich gemeinsam mit ihr gegen die Sperrung von Ernsts Akte eingesetzt hatte. Er ging damals davon aus, dass sie ihre Bedenken auch schriftlich zu der Akte beigefügt hatte. Er jedenfalls habe Ernsts lange kriminelle und gewalttätige Karriere durch Computerausdruck aus den hessischen Datenbanken den zuständigen Sachbearbeitern zur Kenntnis gegeben, die sich über sein Votum hinweggesetzt hätten. Der entsprechende Vermerk, wie der von Rehwald, ist jedoch aus der Akte verschwunden. Der Abgeordnete Müller(CDU) ging den Zeugen damit an, dass er doch als Beamter hätte remonstrieren müssen. Sein Konterpart Müller (FDP) gab jedoch zu bedenken, dass das Remonstrationsrecht nur den eigentlichen Sachbearbeitern zugestanden hätte.
Die aktive Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes, die als nächste vernommen wurde, bestätigte die Glaubwürdigkeit der Zeugin Rehwald, deren Angaben durch die Ausschussmitglieder Goldbach (Grüne) und Bellino (CDU) bei den Sitzungen im Juli in Frage gestellt worden waren. Frau NN (Anonymität zugesichert) schilderte die Aktenführung von Frau Rehwald als extrem korrekt und unglaublich differenziert, so dass sie sich nicht vorstellen könne, dass Rehwald den verschwundenen Vermerk gegen die Sperrung von Ernsts Akte überhaupt nicht angefertigt habe. Auch sei sie in allgemeiner Form mit Frau Rehwald darüber einig gewesen, wie man in einem solchen Fall verfahren solle, da sie einen gleichartigen Fall betreut habe, in dem es auch um einen radikalen Sprengstofftäter ging.
Als letzte Zeugin wurde Iris Pilling, Abteilungsleiterin im Landesamt für Verfassungsschutz vernommen. Vorherige Vernehmungsaufforderungen hatte sie jeweils durch eine Krankmeldung kurz vor der Sitzung abgewehrt. Sie war in den Jahren nach 2011 Amtsleiterin im Bereich Rechtsextremismus. Unter ihrer Leitung entwickelte Frau Rehwald ein Verfahren, mit dem über die Sperrung von Akten rechtsradikaler Täter in einem Listenverfahren zu ca. 1400 Namen entschieden wurde. Sie bestätigte, dass differenzierte Listen erstellt wurden und zum Beispiel über siebzigjährige Rechtsradikale pauschal gesperrt werden konnten. Über andere Sperrungen sei zwischen ca. 2014 und 2016 mit Hilfe der Akten entschieden worden, die karrenweise in ihrem eigenen Büro abgeladen worden seien. Die Akten seien entweder dort oder auch im Büro von Sachbearbeitern gelesen worden und abends jeweils von ihr eingeschlossen worden. Der Vermerk von Eisvogel über Ernst als „brandgefährlich“ und seine Notiz „Wie militant ist der aktuell?“ habe sicher bei ihr zu Gesprächen mit den Dezernatsleitern geführt, allerdings hätten offensichtlich keine neuen Erkenntnisse vorgelegen und Nachermittlungen seien wahrscheinlich nicht gemacht worden.
Fazit: Es ist verständlich, dass Eisvogel bei erster Gelegenheit das hessische Landesamt verließ, weil die politische Spitze nicht bereit war, die notwendigen Stellen und die notwendigen sachlichen Veränderungen zu genehmigen. Auch sein Nachfolger konnte nur drei seiner Verfassungsschützer im Bundesamt ausbilden lassen, alle anderen waren nach wie vor nur angelernte Verwaltungssachbearbeiter. Dass dies im Fall von Frau Rehwald trotzdem zu einer guten Ausbildung ihrer Nachfolgerin führte, war ihrer persönlichen Initiative geschuldet. Auch bei ihr muss man aber davon ausgehen, dass sie das Amt verließ, weil zum Beispiel im Fall von Stefan Ernst ihre kompetenten Einwände durch Dezernatsleitungen und Abteilungsleitungen wie Frau Pilling einfach vom Tisch gewischt wurden.
Als besondere Ironie muss man es beurteilen, dass ausgerechnet das Datenschutzinteresse von Rechtsradikalen als Begründung für die Sperrung ihrer Akten herhalten muss.
Man vergleiche die dauerhafte Bespitzelung von Sylvia Gingold mit der Sperrung der Akte von Stefan Ernst trotz der kriminellen Karriere, dann wird deutlich, dass der hessische Verfassungsschutz seit Jahrzehnten auf dem rechten Auge blind war und wahrscheinlich immer noch ist, weil kompetente Mitarbeiter/innen wie Frau Rehwald und Herr Weidner dort nur stören. Auch muss man CDU und Grünen im Ausschuss bescheinigen, dass sie ständig versuchen, sachlich kompetente Zeugen als unglaubwürdig darzustellen. Deshalb wird wahrscheinlich das Votum dieser Fraktionen zu den Ausschussergebnissen im kommenden Jahr darauf hinauslaufen: Alles ist gut!