Demokratie stärken, Rechtsextremismus und Rassismus bekämpfen

Die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT e.V. unterstützt die Forderungen eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses an die hessische Landesregierung, die mit dem Appell „Demokratie stärken, Rechtsextremismus und Rassismus bekämpfen“ am 28.9.2020 öffentlich gemacht wurden.

Höchste Priorität habe die entschiedene Bekämpfung rechter Gruppen und Netzwerke. Deshalb ist NACHGEFRAGT e.V. entsetzt über die Entscheidung des Frankfurter Oberlandesgerichtes, Markus H., den zweiten Angeklagten im Prozess um die Ermordung Dr. Walter Lübckes, aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Er war Urheber der Hetzkampagne gegen Dr. Walter Lübcke und Helfershelfer des Hauptangeklagten Stephan Ernst. Die Freilassung dieses überzeugten Neonazis aus der Untersuchungshaft sei ein völlig falsches Signal an die neonazistische Szene. Es sei denn, mit der Entlassung von H. solle oder müsse ein Vertrauensmann des Verfassungsschutzes vor weiterer Inhaftierung geschützt werden, wie bereits mehrfach von verschiedenen Seiten vermutet wurde.

Erforderlich sei vielmehr, dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtages unverzüglich alle notwendigen Akten zur Verfügung zu stellen. Nur so könne mehr Licht in die Netzwerke hinter Stephan Ernst und Markus H. gebracht werden. Weiterhin stehe eine umfassende politische Aufklärung der Morde des NSU und der Rolle des Verfassungsschutzes in seinem Umfeld weiterhin auf der Tagesordnung.

In diesem Zusammenhang begrüßt NACHGEFRAGT auch die Forderung, ein unabhängiges Expert*innengremium einzurichten, das auch Untersuchungen zu Rechtsextremismus und strukturellem Rassismus in staatlichen Behörden in Auftrag geben kann. Angesichts der Tatsache, dass das Land Hessen mit 59 rechtsextremistischen  „Verdachtsfällen“ bei der Polizei Spitzenreiter unter den Bundesländern ist, sei hier unverzügliches Handeln gefragt.

Dieses Expert*innengremium müsse auch in die Förderung von Demokratieprojekten einbezogen werden. Antirassismus- und Antidiskriminierungsarbeit und zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus müssten endlich nachhaltig gefördert und nicht, wie leider oft geschehen, behindert werden.

Die Haftentlassung von Markus H. ist in jedem Fall ein äußerst fragwürdiges Signal!

Schlussfolgerungen aus der Arbeit des Hessischen NSU-Untersuchungsausschusses

1. Die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Hessen war sinnvoll und wichtig. Trotz mancher Mängel und zahlreicher Behinderungen haben die dort tätigen Abgeordneten und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Erkenntnisse erzielt und öffentlich machen können, die bei einer rein internen Untersuchung keine Aufmerksamkeit gefunden hätten. Dies ist aber auch der Begleitung der Ausschussarbeit durch NSU-Watch und einige Presseorgane zu verdanken.
2. Die Zusammenarbeit von Parlamentariern und zivilgesellschaftlichen Initiativen hat sich aus unserer Sicht bewährt. Die Entwicklung von verbindlichen Kommunikationszusammenhängen zwischen Parlamentariern und außerparlamentarischen, ehrenamtlich tätigen Initiativen über das Ende des NSU-Untersuchungsausschusses hinaus erscheint uns anstrebenswert.
Eine Zusammenstellung der offen gebliebenen oder neu aufgetauchten Fragen im Zusammenhang mit dem Mordfall Yozgat, vor allem aber auch hinsichtlich der rechtsextremistischen und neonazistischen Strukturen in Nordhessen (z.B. zur Rolle von Corynna Görtz), sollte von NSU Watch Hessen auf der Basis der Protokolle aller Ausschuss-Sitzungen angefertigt werden. Die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT kann diese Liste um ihre weiterhin offenen Fragen ergänzen (z. B. um die Frage, wer aus welchen Gründen seine Hand über Temme hielt bzw. hält). Der Austausch über eine solche Liste kann zunächst zwischen den beiden Initiativen abgestimmt und interessierten Mitgliedern des hessischen Untersuchungsausschusses als Arbeitsgrundlage zur Verfügung gestellt werden. In welchen Strukturen diesen Fragen zukünftig im Einzelnen nachgegangen werden kann/soll, müsste jeweils konkret diskutiert werden – siehe im Übrigen Pkt. 5 (‚Stiftung‘).
3. Die unterschiedlichen Ebenen des Behördenversagens dürfen unserer Ansicht nach bei seiner Aufarbeitung und der Formulierung entsprechender Konsequenzen auf keinen Fall aus dem Blick geraten. Sie bedürfen jeweils spezifischer Gegenstrategien. Das finale Erliegen jeglicher Aufklärung wurde durch Vorgaben und Verhinderungsstrategien vorgesetzter Dienstbehörden des Verfassungsschutzes und durch aktives Eingreifen der politischen Führung (Verweigerung der Aussagegenehmigung der V-Leute durch Minister Bouffier etc., siehe dazu auch Pkt. b und c) verursacht.
3a) Justiz und Polizei haben bei der Untersuchung des Mordes an Halit Yozgat schwerwiegende systematische Fehler begangen. Sie sind frühen Hinweisen auf ausländerfeindliche Motive der Tat nicht nachgegangen, haben über eine lange Phase einseitig ermittelt, bei den Ermittlungen die Schuld von dem/den Täter/n auf das Opfer verschoben und vor allem die Familie des Opfers ausgeforscht. Dabei sind beide Instanzen des Hessischen Staates über die rechtsstaatlichen Grenzen gegangen. Die rechtlich gebotene Information der Betroffenen über die Überwachungsmaßnahmen fehlt bis heute. Ebenso fehlt eine formelle Entschuldigung der Justiz für die unrechtmäßigen Überwachungsmaßnahmen. Die bei den Vernehmungen im Ausschuss zutage getretene enge Verzahnung der Staatsschutz-Abteilungen der Polizei mit den örtlichen Zweigstellen des Landesamtes für Verfassungsschutz halten wir für ausdrücklich vom Grundgesetz und der Hessischen Landesverfassung verboten.
Der Angabe der Familie Yozgat, dass man auch nach offiziellem Abschluss der Ermittlungen weiter unter Beobachtung stand, sollte nachgegangen werden. Nach einer internen Untersuchung sollten die Präsidenten der Landesbehörden gegenüber dem Hessischen Landtag erklären, ob diese Beobachtung durch hessische Stellen von Justiz, Polizei oder Verfassungsschutz durchgeführt, genehmigt oder zugelassen wurde. Es sollte eine neutrale Ombudsstelle des Landtags für Opfer geben, die sich von der Polizei zu Unrecht verfolgt oder beschuldigt fühlen. Wie in anderen Bundesländern auch müssen in Hessen Polizei und Staatsanwaltschaft scheinbar ‚erledigte‘ Verfahren zu ungeklärten Todesfällen und schweren Körperverletzungen, die nach Angaben der Opfer rassistisch oder politisch motiviert sein könnten, erneut untersuchen. Dabei sollte sichergestellt werden, dass diese Untersuchungen durch qualifizierte Kollegen anderer Dienststellen erfolgt.
3b) Der abstrakte und pauschalisierte Vorwurf eines ‚Institutionellen und strukturellen Rassismus‘ reicht unseres Erachtens nicht aus, um das Behördenversagen bei der Aufklärung der NSU-Morde umfassend zu beschreiben. Zum einen erscheint uns die undifferenzierte Verwendung des Rassismus-Begriffs selbst in der Negation problematisch. Darüber hinaus enthält der Begriff eine Verengung von voreingenommenem resp. vorverurteilendem Behördenhandeln auf ethnisch motivierte Vorurteile und blendet andere, ebenso wirkungsmächtige Stereotypen und Vorurteilsstrukturen (z. B. soziale, politische oder genderbezogene) explizit aus
Wir bestreiten nicht, dass rassistisch geprägte Stereotypen bei den Ermittlungsbehörden weit verbreitet sind und Handlungsstrategien geprägt haben. Das komplette Versagen bei der Aufklärung der NSU-Morde lässt sich allerdings nur aus einem Bündel unterschiedlicher Ursachen erklären. Dazu gehören die in Exekutive und Justiz verbreitete, auch historisch tradierte Blindheit beim Blick nach rechts, ein ausgeprägter Korpsgeist, der Kritik von ‚außen‘ nicht zulässt, die Verselbständigung organisationslogischer Prozesse innerhalb der Sicherheitsbehörden (vgl. dazu auch M. Pichl 2018) , vor allem aber die systematische Verhinderung der Aufklärung durch massive Interventionen von Seiten der Politik und des Verfassungsschutzes.
3c) Auf der operativen Ebene der Ermittlungsbehörden lassen sich im Fall Yozgat im Anfangsstadium der Ermittlungen durchaus (individuell unterschiedlich motivierte und ausgeprägte) Aufklärungsabsichten nachweisen, auch wenn sie nicht hinreichend objektiv ‚in alle Richtungen‘ gingen. Solche – wenn auch unzureichenden und letztlich steckengebliebenen – Ansätze sollten im Gesamtkontext nicht übersehen werden. Zu analysieren wäre, ob und ggf. wie weit sich hier Ressourcen zur Aufarbeitung von Intransparenz und strukturellen Mängeln im Behördenhandeln finden lassen.
Hinsichtlich der Rolle von diskriminierenden Vorurteilsstrukturen und Stereotypen sowie daraus resultierenden einseitigen Vorgehensweisen bei Polizei und Justiz könnte die Weiterentwicklung eines differenzierenden Ansatzes produktiv sein, wie ihn etwa der frühere Leiter der MK Café, Helmut Wetzel, im HNA-Interview am 29. 12. 2017  versucht. Zu den politisch und strukturell zu ziehenden Konsequenzen vgl. auch Pkt. 4 und 5.
4. Die Verwicklung des Hessischen Verfassungsschutzes und/oder anderer deutscher Geheimdienste in den Mordfall Halit Yozgat ist allein durch die Anwesenheit des Verfassungsschützers Andreas Temme offenkundig. Weitere Indizien dafür sind die abgehörten Telefongespräche Temmes mit Kollegen (z. B. „wenn ich weiß, da passiert etwas, gehe ich da nicht hin“…), die Vernichtung sowie die verzögerte und unvollständige Herausgabe von Beweismaterial, die Entfernung des Panzerschranks der Kasseler Zweigstelle, die Verweigerung der Aussagegenehmigung von Temmes V-Leuten sowie die direkte Kommunikation des Innenministeriums und der Abteilungsleiterin Iris Pilling unter Umgehung des Dienstweges mit Temme sowie dessen Beförderung im Anschluss an seine Versetzung.
4a) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Verfassungsschutz seinerzeit in einem rechtsfreien Raum agiert hat und Aufklärungsbemühungen bis heute torpediert. Durch das V-Leute-System hat er, auch in Hessen, die rechte Szene nicht nur alimentiert, sondern auch zur Herausbildung und Verfestigung  neonazistischer Netzwerke beigetragen. Eine Aufarbeitung der im Rahmen der Ausschussarbeit zutage getretenen strukturellen Problematiken und der Verstrickungen zumindest von Teilen der Verfassungsschutz-Ämter in den NSU-Komplex ist bislang vollständig unterblieben. Die demokratische Kontrolle des hessischen Verfassungsschutzes wird durch den von Schwarz-Grün vorgelegten Entwurf für ein neues Verfassungsschutz-Gesetz in keiner Weise verbessert. Stattdessen ist eine schleichende Aufwertung des VS zu beobachten (finanziell, personell, hinsichtlich seiner Befugnisse, z. B. der Regelüberprüfung von Mitarbeiter/innen neuer Demokratie-Initiativen).
4b) Wir lehnen die Ausweitung der Rechte des Verfassungsschutzes entschieden ab, wie sie im neuen Verfassungsschutzgesetz zur Ausspähung von hessischen Bürgerinnen und Bürgern vorgesehen sind. Ebenso sind wir gegen die im Gesetzentwurf und den entsprechenden Verordnungen definierte ‚Extremismusklausel‘. Auch soll die parlamentarische Kontrolle des Verfassungsschutzes nach dem vorgelegten Entwurf nicht hinreichend verbessert werden. Die Regelüberprüfung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Demokratie-Initiativen wollen wir verhindern. Beide Vorhaben der schwarz-grünen Koalition in Hessen widersprechen den Bestimmungen des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Landes Hessen nicht nur dem Geiste, sondern auch dem Buchstaben nach. Dass Hessen einen Versuch macht, Bürgerrechte einzuschränken und Demokratie-Initiativen zu drangsalieren, lässt sich nicht mit Erkenntnissen aus dem NSU-Untersuchungsausschuss begründen. Als Erklärung bleibt einzig ein autoritäres Staatsverständnis der Regierungsparteien von CDU und Grünen. Musterklagen gegen diese Regelungen werden wir unterstützen.
Im Rahmen der überfälligen grundlegenden Reform des Verfassungsschutzes fordern wir die Verbesserung der parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten und die Abschaffung des bisherigen V-Leute-Systems.
5. Wir schlagen die Gründung einer Stiftung für politische Bildung (evtl. Halit-Yozgat-Stiftung?) zur zivilgesellschaftlichen Aufarbeitung des NSU-Mordes in Hessen – ausgestattet mit Landesmitteln – vor. Diese Mittel sollten für die nächsten 3 Legislaturperioden zugesagt und durch entsprechende Verpflichtungsermächtigungen in den kommenden Haushalten abgesichert werden.
Die Stiftung für politische Bildung  sollte unserer Meinung nach drei Aufgabengebiete haben:
  • Sicherstellung eines angemessenen Andenkens an das Mordopfer und andere Opfer von Neonazi-Gewalt und Unterstützung von deren Familien.
  • Beiträge zur Aufklärung nach wie vor ungeklärter Umstände der Tat und der Rolle hessischer Behörden, etwa durch Unterstützung entsprechender Recherchen und Entwicklung von dafür geeigneten nichtinstitutionellen Strukturen
  • politische Bildung zur Stärkung eines demokratischen Bewusstseins und zur Prävention gegen Neonazi-Umtriebe in Kassel und Nordhessen in Kooperation und Abstimmung mit geeigneten anderen Akteuren (z.B. MBT Kassel, lea Bildungsgesellschaft etc.). Vgl. im Übrigen Ideenskizze zur Gründung einer Halit-Yozgat-Stiftung, die von uns jedoch noch weiterentwickelt wird.
6. Unabhängig vom oben Gesagten halten wir eine Verstärkung des historisch-politischen Unterrichts in hessischen Schulen und der entsprechenden Lehrangebote an hessischen Hochschulen sowie der außerschulischen Demokratieerziehung in Hessen für dringend notwendig.

Jahresrückblick 2019

Liebe Mitglieder von NACHGEFRAGT e. V.

Unser erstes Vereinsjahr ist zu Ende, und obwohl es nur sechs Monate dauerte, können wir mit den Ergebnissen unserer Tätigkeit sehr zufrieden sein. Der Verein wächst kontinuierlich und hat derzeit (Stand 31.12.2019) 18 Mitglieder. Die Formalitäten der Vereinsgründung waren zeitraubend, konnten aber mit großem Einsatz an Zeit bis November 2019 erledigt werden. Wir verfügen über die amtliche Eintragung als e.V., die vorläufige Gemeinnützigkeitsbescheinigung und ein Vereinskonto. Wir erfüllen unsere Vereinszwecke durch kontinuierliche Arbeit an der Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren durch Neonazis, durch Angebote der innerschulischen und außerschulischen Politischen Bildung und durch die Bereitstellung von Informationen zur demokratischen Willensbildung über die Medien.
Im Rahmen der Vereinszwecke steht auch unsere Mitarbeit beim „Runden Tisch Rechtsextremismus in Hessen“ der Landtagsfraktion der SPD. In den beiden Sitzungen des Jahres 2019 stand auch die Forderung nach einer Landesstiftung für Demokratie, Aufklärung und Politische Bildung in Erinnerung an die hessischen Nazi-Opfer zur Debatte. Die SPD Landtagsfraktion hat damit einen unserer Vorschläge aufgegriffen, den wir unter anderem als Konsequenz aus der Arbeit des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses formuliert hatten.
Unsere Vereinsarbeit seit Sommer 2019 fußt auf der ehrenamtlichen Arbeit der Kasseler Initiative NACHGEFRAGT, die seit 2017 daran arbeitete, das Schweigekartell um den Mord an Halit Yozgat, die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme und die Verhinderung der Aufklärung des Mordes durch Volker Bouffier zu durchbrechen. Zu vier Veranstaltungen von 2017 bis 2019 kamen jeweils mehr als hundert Personen, um sich zu informieren. Die lokalen Medien jedoch hielten zunächst das Thema der rechten Terrornetzwerke nicht für berichtenswert. Im März 2019 veranstaltete die Initiative NACHGEFRAGT eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Gefahr im Verzug“. Auf dieser von der Bildungsgewerkschaft GEW geförderten Veranstaltung kritisierten Bundestags- und Landtagsabgeordnete von SPD, Grünen und Linken sowie die Anwältin Seda Basay-Yildiz insbesondere den mangelnden Aufklärungswillen hessischer Behörden. Im Vorfeld warf man der Initiative wegen des Veranstaltungstitels „Polizeisprech“ und Dramatisierung vor. Der nur drei Monaten später begangene Mord an Dr. Walter Lübcke durch einen bekannten Neonazi, der sich auf wiederum bekannte Neonazis stützen konnte, war allerdings eine Bestätigung unserer Befürchtungen.
Eine unbürokratische Spende des Landtagsvizepräsidenten Dr. Ulrich Wilken (Die Linke) ermöglichte es uns, am 10.10.2019 in der Universität eine Veranstaltung zur der „Gefahr durch rechte Netzwerke in Nordhessen“ durchzuführen. Sie wurde durch zahlreiche Organisationen spontan unterstützt. Über 230 Menschen nahmen teil und informierten sich bei den Podiumsteilnehmern Martín Steinhagen, Katharina König, Daniel Göbel und Christopher Vogel (Moderation: Armin Ruda)über die seit langem bestehenden, durch den Mord an Dr. Walter Lübcke wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gelangten Gruppierungen von Neonazis in Nordhessen. Deren Verbindungen nach Thüringen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ermöglichten auch schon zu Zeiten des ersten NSU logistische Unterstützung für die Mordanschläge. In diesem Zusammenhang haben wir damit begonnen, einen Veranstaltungskalender aus dem thematischen Umfeld des Bündnis gegen Rechts zu entwickeln, um diese Veranstaltungen einer breitere Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Für Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 an der Alten Landesschule in Korbach konnten wir eine Veranstaltung mit den Kopiloten e. V. vermitteln, in der es um den Umgang mit Hatespeech im Internet ging. Im Workshop „Hatebreach“ ging es am 27. November 2019 um das Erkennen von Hasskommentaren und die Auseinandersetzung mit gewalttätiger Sprache im Internet.
Unsere größte Leistung in der kurzen Zeit des Bestehens ist jedoch die Formulierung der „Kasseler Erklärung“ zusammen mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten des „Bündnis gegen Rechts“ und die Verbreitung dieser Erklärung. In nur drei Monaten unterzeichneten insgesamt 80 Einzelpersonen und 40 Unternehmen und Organisationen diese Erklärung. Viele erfahrene Aktivisten im Bündnis bestätigten uns einen großen Erfolg. Dies hat zu einer besseren Vernetzung innerhalb des Bündnisses geführt. Die meisten der Unterzeichner spendeten größere oder kleinere Geldbeträge, so dass am 14. Dezember 2019 eine halbseitige Anzeige mit dem Text der Kasseler Erklärung und den Unterzeichnern in der HNA erscheinen konnte. Für alle, die diese Ausgabe der HNA verpasst haben, fügen wir ein Faksimile bei.
Die Anzeige hat weitere Nordhessen ermutigt; kontinuierlich gehen neue Unterzeichnungswünsche ein. Wir sehen inzwischen die Kasseler Erklärung als programmatische Basis für eine kontinuierliche Zusammenarbeit im Bündnis gegen Rechts. Wir wollen das Bündnis so von einem rein reaktiven, punktuellen zu einem aktiven Bündnis umbauen, in dem gemeinsame Vorhaben gegen Neonazis und für eine offene, vielfältige und solidarische Gesellschaft geplant, koordiniert und umgesetzt werden können.
Wir wollen nicht verschweigen, dass die finanziellen, logistischen und „diplomatischen“ Aufgaben im Vorfeld der Veröffentlichung der Erklärung den Vereinsvorstand bis an die Grenzen des Möglichen und darüber hinaus belastet haben. Im neuen Jahr werden wir deshalb baldmöglichst auf einer Mitgliederversammlung am 6. März 2020 um weitere Unterstützung werben. Dabei sind Gäste neben den Vereinsmitgliedern stets willkommen. Eine gesonderte Einladung mit Tagesordnung wird Euch/Ihnen rechtzeitig zugehen.
Wir werden uns auch mit der Bitte um Unterstützung an die Kooperationspartner bei der Kasseler Erklärung wenden. Wenn sich einige Mitglieder und Andere bereit erklären, eingeschränkte Teilaufgaben zu übernehmen, können wir das nächste Ziel, eine Kulturveranstaltung auf dem Rainer-Dierichs-Platz am Kulturbahnhof im Juni 2020 gemeinsam mit anderen Initiativen anstreben.
Inzwischen ist unser Verein auch zum Ansprechpartner der lokalen und überregionalen Medien geworden. Beiträge über unseren Verein oder Interviews mit Vorstandsmitgliedern erschienen zum Beispiel im „Bericht aus Berlin“ (ARD), im Berliner „Tagesspiegel“, im „Südwestdeutschen Rundfunk“, in der „FAZ+“ und immer wieder in der „HLZ“, Zeitschrift der GEW Hessen. Auch werden wir öfter zu Hintergrundgesprächen zur rechten Szene in Nordhessen durch Journalisten angefragt.
Ich danke den Vorstandsmitgliedern Barbara Aner-Kuhley, Karl Bachsleitner, Elisabeth Gessner, Marianne Huttel, Thomas Jansen und Rainer Tigges-Gessner für die verlässliche und konstruktive Zusammenarbeit. Sie hat die oben beschriebenen Erfolge möglich gemacht.
Der Vorstand wünscht allen Mitgliedern ein erfolgreiches Neues Jahr, viel Glück und Gesundheit.

Kassel, im Januar 2020
Horst Paul Kuhley
(Erster Vorsitzender)

Begrüßung Gedenkgottesdienst

Liebe Familie Lübcke, liebe Angehörige, sehr geehrte Damen und Herren,

wir Demokratie-Initiativen vom Bündnis gegen Rechts haben diesen Gottesdienst zusammen mit der katholischen und der evangelische Kirche vorbereitet. Das Gedenken an Dr. Walter Lübke, einen Staatsmann zum Anfassen, einen prinzipientreuen Politiker und einen großartigen Menschen steht heute im Mittelpunkt. Erst vor Kurzem wurde daran erinnert, dass Walter Lübcke in den neunziger Jahren in Thüringen ebenfalls Bildungsarbeit für Demokratie und gegen Nazis organisierte. Er fehlt uns allen sehr, das zeigt das große Interesse an diesem Gottesdienst. Wir bitten die Privatsphäre der Familie zu respektieren.

NSU-Aufklärung kommt nicht voran

Unsere 1. Veranstaltung 2017: NSU-Aufklärung kommt nicht voran – Mordzeuge Temme liest unsere Akten. Weiter so?

Auf das Konto des sogenannten NSU gehen wahrscheinlich 10 Morde sowie zwei Sprengstoffattentate. Vor dem OLG München mussten sich seit Mai 2013 Beate Zschäpe und weitere Helfer wegen Mittäterschaft bzw. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Seit Juli 2014 existierte auch im Hessischen Landtag ein Untersuchungsausschuss. In diesem ging es um die NSU-Kontakte in Hessen und um die Frage, welche Fehler bei der Aufklärung des Kasseler Mordes gemacht wurden.
Untersuchungsgegenstand war ebenfalls die Rolle des ehemaligen Verfassungsschützers Andreas Temme, der beim Mord an Halit Yozgat 2006 in der Holländischen Straße in Kassel am Tatort anwesend war.

Beim hessischen Verfassungsschutz war der Beamte Andreas Temme nicht mehr tragbar, weil er sich, obwohl Mordzeuge, nicht bei der Polizei gemeldet hat. Seit einiger Zeit bearbeitet er jedoch beim Regierungspräsidium Kassel vertrauliche Personalakten pensionierter Beamtinnen und Beamter. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen sind der Meinung, dass diese Tätigkeit Temmes nicht stillschweigend hinzunehmen ist.

Ein großartiger Erfolg war die Veranstaltung ‚NSU-Aufklärung kommt nicht voran – Mordzeuge Temme liest unsere Akten – Weiter so?‘ zu der die Kasseler Initiative zusammen mit der Bildungsgesellschaft lea der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft an die Universität Kassel eingeladen hatte. Bei der Veranstaltung am Mittwoch, dem 22. Februar 2017, waren ca. 160 bis 170 Personen aller Alters- und vieler Berufsgruppen anwesend, unter ihnen auch der Vorsitzende des Ausländerbeirats Kamil Saygin und Stadtverordnete von Grünen und Linken. Der Hörsaal an der ehemaligen Ingenieurschule war brechend voll.

Für den Moderator Prof. Dr. Bernd Overwien (Universität Kassel) und die Referentin Sonja Brasch von NSU-Watch dienten die von der Kasseler Initiative vorbereiteten Fragen als Richtschnur. Im Referat von Frau Brasch standen drei Komplexe im Vordergrund: Der sogenannte NSU und seine Mordtaten, die Arbeit des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses und die vielen Ungereimtheiten bei der Aufklärung der Rolle des ehemaligen Verfassungsschützers Andreas Temme.

Dessen jetzige Beschäftigung als Bearbeiter von vertraulichen Personalakten im Regierungspräsidium Kassel wurde in der folgenden Diskussion heftig kritisiert. In der sehr diszipliniert und sachlich geführten Debatte stellte sich schnell ein Konsens her, dass der von der Initiative vorgelegte Fragenkatalog weiter verfolgt werden soll. Die Fraktionen im hessischen Landtag und der Regierungspräsident sollen um Unterstützung bei der Klärung gebeten werden. Vom Landtagsabgeordneten Jürgen Frömmrich (Grüne) liegt der Initiativgruppe bereits eine Einladung zu einer Sitzung des Untersuchungsausschusses in Wiesbaden vor. Von vielen Rednerinnen und Rednern wurde jedoch zusätzlich der dringende Wunsch geäußert, eine Resolution zu verabschieden. Die Abstimmung ergab dann eine fast einstimmige Unterstützung (bei nur zwei Gegenstimmen) für folgende Aufforderung an den Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke:

„Die mehr als 160 Anwesenden bei der Veranstaltung ‚NSU-Aufklärung kommt nicht voran. – Mordzeuge Temme liest unsere Akten. Weiter so?‘ fordern, dass der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme nicht mehr in der Pensionsregelungsbehörde oder vergleichbar vertraulichen Tätigkeitsbereichen des Regierungspräsidiums Kassel arbeiten darf. Insbesondere soll er zukünftig daran gehindert werden, Einblick in Personendaten zu nehmen.“

Die verabschiedete Resolution ist auch gerichtet an die Stadtverordnetenfraktionen in der Stadt Kassel und die Kreistagsfraktionen im Landkreis Kassel (mit Ausnahme der AfD) und die Landtagsfraktionen mit der Bitte, diese Resolution zu unterstützen, um den Regierungspräsidenten in Kassel dazu zu bewegen, seinen Mitarbeiter Temme anderweitig zu beschäftigen.

Aus den Reihen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer kam auch der Wunsch nach einer Folgeveranstaltung in einem nochmals erweiterten Kreis, da wahrscheinlich auch die Akten von Polizisten und Richtern von Temme bearbeitet werden. Der dann erzielte Informationsstand soll im Herbst erneut in einer Veranstaltung vorgestellt werden.

Zitat aus dem verabschiedeten Fragenkatalog:
„An den Regierungspräsidenten Dr. Lübcke richtet sich dabei vor allem die Frage, ob ein Mensch als Personalsachbearbeiter tragbar ist, der nach Aussagen seiner Vorgesetzten für den Verfassungsschutz ungeeignet ist und von Ausschussmitgliedern und Zeugen der Untersuchungsausschüsse in Berlin und Wiesbaden als persönlich und charakterlich unzuverlässig eingeschätzt wird.“

Es gibt keinen Nachweis für die Tatbeteiligung des NSU-Trios am Mord von Halit Yozgat außer der Pistole und der Sebstbezichtigung.

Die Einloggdaten belegen, dass der Verfassungsschützer Andreas Temme zur Tatzeit am Tatort war.

Andreas Temme ist vor dem Mord an H.Yozgat von seiner Vorgesetzten mit einer eMail auf die Ceska-Waffe hingewiesen worden und hat die dienstliche Anweisung an die Mitarbeiter, ihre V-Personen nach Erkenntnissen über die Mordserie zu befragen, gegengezeichnet.

Im Bundestagsuntersuchungsausschuss jedoch lügt Temme diesbezüglich. Am 11.03.2013 gibt Temme dort auf die Frage nach Kenntnissen über die Mordserie vor dem Mord an H.Y zu Protokoll: „Nein, dienstlich war dies kein Thema.“

Iris Pilling hat die Echtheit von Temmes Unterschrift auf der Mail in der nächsten Sitzung des hessischen Untersuchungsausschusses am 24.03 2017 bestätigt.

Obwohl Temme sich der polizeilichen Untersuchung zunächst trotz Anwesenheit am Tatort zur Tatzeit entzogen hatte und obwohl dem LfV weitere Dienstverstöße bekannt waren (u.a. Besitz illegaler Munition und illegaler Drogen, Aufbewahrung rechtsextremer Schriften, Kontakte zu den Hells Angels), gab es kein echtes dienstrechtliche Disziplinarverfahren gegen Temme.

Nur die Veröffentlichung der Zusammenhänge in der BILD-Zeitung im Juli 2006 verhinderte, dass Temme wieder in den Dienst übernommen wurde.

Stattdessen wurde Temme an das Regierungspräsidium in-Kassel versetzt und zum Amtmann befördert.

Es ist unklar, wer die Entscheidung über Temmes jetzige Beschäftigung in der Pensionsregelungsbehörde für Lehrer, Polizisten und Richter fällte. Nach Ansicht des damaligen Referatsleiters Scholz sollte er einen „Arbeitsplatz ohne Publikumsverkehr bekommen.

Zusammen mit der noch stärker angewachsenen Interessengruppe von Bürgerinnen und Bürgern wird die Initiative weiter an der Aufarbeitung der Ungereimtheiten und der zu ziehenden Konsequenzen arbeiten.