Mordzeuge Temme liest unsere Akten
Um diese Zusammenhänge öffentlich zu machen, organisierte die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT zusammen mit der Bildungsgesellschaft ‚lea‘ der GEW-Hessen am 22.2.2017 eine erste Veranstaltung an der Universität Kassel unter dem Titel „NSU-Aufklärung kommt nicht voran. Mordzeuge Temme liest unsere Akten. Weiter so?“. Die finanzielle und inhaltliche Unterstützung durch die GEW-Kreisverbände Kassel-Stadt und Land sowie den Bezirksverband der GEW wurde ein Charakteristikum aller Veranstaltungen von NACHGEFRAGT. In dieser ersten Informationsveranstaltung stellte Sonja Brasch von NSU-Watch Hessen, moderiert von Prof. Bernd Overwien von der Uni-Kassel, den Stand der Ermittlungen im Hessischen NSU-Untersuchungsausschuss zum Mord an Halit Yozgat dar. Über 160 Anwesende forderten daraufhin den Regierungspräsidenten auf, die Beschäftigung Temmes mit Personalangelegenheiten zu beenden. Außerdem wurde ein Katalog von Fragen an die Abgeordneten im Ausschuss verabschiedet. Im Unterschied zur HNA berichtete die HLZ, Zeitung der GEW, von da ab ebenso regelmäßig über unsere Veranstaltungen.
Mit der im Februar verabschiedeten Liste von Fragen begann eine Zusammenarbeit mit Politikern im Landtag, die sich im Laufe des Jahres 2017 ständig intensivierte und dauerhaft blieb. Besuche der Initiative bei Landtagsabgeordneten von Grünen, Linken und der SPD folgten, bei denen sich viele Fragen beantworten ließen und neue Fragen auftauchten. Linke und SPD stellten auch im Untersuchungsausschuss Fragen, die von der Kasseler Initiative NACHGEFRAGT formuliert worden waren. Im Laufe des Jahres 2017 organisierte die Initiative regelmäßige Besuche von Kasseler Bürgerinnen und Bürgern beim Untersuchungsausschuss in Wiesbaden.
Vom Ende der Lügen
Am 21.9.2017 fand eine zweite Veranstaltung an der Universität Kassel unter dem Titel „Vom Ende der Lügen – Was folgt aus dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss?“ statt. Eine Einladung zur Teilnahme hatte der Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke abgelehnt. Die Landtagsabgeordneten Nancy Faeser (SPD), Jürgen Frömmrich (Grüne) und Herrmann Schaus (Linke) diskutierten mit der Journalistin Heike Kleffner, Ayse Güleç (Ini6April) und Sonja Brasch (NSU-Watch Hessen) sowie 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern über Erkenntnisse und Konsequenzen aus dem Hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. Auf dem Podium und von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde vor allem die schleppende Aufklärungsbereitschaft bei CDU und Grünen kritisiert. Andererseits wurde deutlich, dass es bereits eine ganze Reihe von Erkenntnissen über Versäumnisse bei der Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat gibt. Darüber, dass Andreas Temme ein unglaubwürdiger Zeuge ist, waren sich die Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer einig.
Verfassungsbruch durch Verfassungs“schutz“
Im Sommer 2018 peitschten Grüne und CDU ein neues Polizeigesetz und ein Verfassungsschutz-Gesetz durch den Hessischen Landtag. Wir erarbeiteten im Vorfeld eine umfangreiche Stellungnahme zu diesen Plänen und veranstalteten am 26. September 2018 eine Podiumsdiskussion zum Thema: Verfassungsbruch durch Verfassungs“schutz“ – die schleichende Aushöhlung demokratischer Grundsätze“ mit Rolf Goessner, (Internationale Liga für Menschenrechte), Nancy Faeser (MdL SPD Hessen), Hermann Schaus (MdL Linke Hessen,), Christian Kuschel (FDP) und Jochen Nagel (GEW Hessen). Als Moderator konnte der Nachfolger von Bernd Overwien auf dem Lehrstuhl für Politikdidaktik Andreas Eis gewonnen werden. Wiederum waren ca. 150 Menschen gekommen. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD-Spitzenkandidat) unterbrach seine Wahlkampftour für einen kurzen Besuch in der Veranstaltung. Die Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer kritisierten die Veränderungen im Polizeigesetz und im Verfassungsschutzgesetz, die CDU und Grüne Landtagsfraktionen im Sommer durchgepeitscht hatten. Kritisiert wurden Freibriefe für Abhöraktionen und den Einsatz krimineller V-Leute sowie die Erschwerung von Akteneinsicht in gespeicherte Informationen von Bürgerinnen und Bürgern.Kontrovers wurde darüber diskutiert, ob es möglich sei, den Verfassungsschutz zu reformieren (Faeser, Kuschel) oder ob er nicht abgeschafft werden müsste (Gössner, Nagel, Schaus).
Gegen das Vergessen – Gefahr im Verzug
Rechte Netzwerke bei der Polizei, eine ‚Schattenarmee‘ mit Umsturzplänen für den Tag X bei der Bundeswehr, hasserfüllte Drohschreiben an politische Andersdenkende mit dem Absender ‚NSU 2.0‘, die Reorganisation verbotener Neonazi-Strukturen wie Blood&Honour – die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Das öffentliche Entsetzen bei der Aufdeckung solcher Skandale ist leider kurzlebig, die Mechanismen der Bagatellisierung und des Vertuschens dagegen sind vielfältig und greifen schnell.
Auch acht Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU blieben entscheidende Fragen zum NSU-Komplex offen. Weder der Mord an Halit Yozgat noch die Verstrickung des ehemaligen Verfassungsschützers Temme wurden hinreichend aufgeklärt. Auch der Abschlussbericht des hessischen Untersuchungsausschusses enthielt zahllose Hinweise auf die fatalen Folgen behördlicher Ignoranz und formulierte konkrete Handlungsempfehlungen, um demokratische Strukturen zu stärken und der Entstehung neuer neonazistischer Netzwerke entgegenzuwirken. Wirksame politische Konsequenzen zeichneten sich jedoch auch in der neuen Sitzungsperiode des Hessischen Landtags nicht ab. Die angebliche Reform des hessischen Verfassungsschutzes zielte sogar in eine falsche Richtung.
Dies war der Hintergrund für die nächste große Diskussionsveranstaltung in der Zusammenarbeit vieler Kasseler Initiativen. Unter dem Titel „Gegen das Vergessen – Gefahr im Verzug“ diskutierten am 28.3.2019 im Philipp-Scheidemann-Haus MDB Dr. Irene Mihalic (GRÜNE), MDL Hermann Schaus (LINKE), MDB Dr. Johannes Fechner (SPD), Seda Başay-Yildiz (Anwältin der Nebenklage im NSU-Prozess und durch „NSU 2.0“ bedroht). Die eigentlich ebenfalls vorgesehene MDB Petra Pau (LINKE) war aus persönlichen Gründen verhindert, realisierte aber trotzdem den Termin, der mit Kasseler Antifa-Initiativen vereinbart war, per „Live-Schalte“ in den Kasseler Schlachthof. Mit der Moderation von Armin Ruda (Medienprojektzentrum Offener Kanal) wurde bei der Diskussionsveranstaltung auf die Ergebnisse der zahlreichen Untersuchungsausschüsse zurückgeblickt. Hier zeigte sich auf der Bundes-Ebene große Gemeinsamkeit, gleichzeitig aber auch die Differenz zwischen den Grünen in Hessen und den Positionen der Grünen im Bund. Im Nachgang zu der Veranstaltung konnte die Initiative Forderungen formulieren, die für den Erhalt unseres Gemeinwesens prioritär erscheinen. Wir stellten die Idee von NACHGEFRAGT zu einer Stiftung für Demokratie, Aufklärung und politische Bildung in Erinnerung an Enver Şimşek und Halit Yozgat vor. Sie soll der weiteren Aufklärung des NSU-Komplexes und der politischen Bildung für die Stärkung demokratischer Strukturen dienen.
Nordhessische Neonazis – Gefahr durch rechte Netzwerke
Am 10. Okt. 2019 veranstaltete die Initiative in der neuen Rechtsform als Verein erneut eine Podiumsdiskussion an der Universität Kassel, diesmal in Verbindung mit dem Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie, dem Fachbereich 5 der Universität und weiteren Unterstützern. Unmittelbar vorher hatte ein Rechtsradikaler in Halle mehrere Menschen erschossen, nachdem er den Zugang zur Synagoge nicht erzwingen konnte. Wohl auch deshalb war der riesige Hörsaal 6 am Holländischer Platz mit über 260 Teilnehmern völlig überfüllt und die Polizei entsandte vorsichtshalber einen Streifenwagen. Moderiert von Armin Ruda diskutierten Daniel Göbel (Redakteur HNA), Katharina König (Landtagsabgeordnete Thüringen), Martin Steinhagen (Journalist) und Christopher Vogel (Mobiles Beratungsteam Hessen) über die nach wie vor große „Gefahr durch rechte Netzwerke in Nordhessen“ und in den angrenzenden Bundesländern. Es wurde deutlich, dass Kassel eine Schnittstelle und eine Durchgangsstation mobiler Nazis zwischen NRW, Südniedersachsen und Thüringen ist. Zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen organisieren in Nordhessen Konzerte, verdeckte Treffen und einzelne Gewalt- und Terrorakte. Es gab und gibt auch Kontakte von Nazis ins Milieu der Hooligans beim KSV und in die AfD.
Workshop gegen Hatespeech
Ein Zeitungsbericht über die Veranstaltung zu rechten Netzwerken hatte einen Lehrer aus Korbach auf die Initiative aufmerksam gemacht. Er bat um Unterstützung für die politische Bildung an seinem Gymnasium. NACHGEFRAGT vermittelte daraufhin einen Projekttag zu Hate Speech, der in der Kooperation Alte Landesschule Korbach, Jugendhaus Korbach und Die Kopiloten e.V. am 26. November 2019 durchgeführt wurde. Die Ziele des Projekttags waren:
Die Schüler*innen
- kennen die Definition von Hate Speech (strafrechtlich relevante und diskriminierende Äußerungen und der Unterschied zu Mobbing),
- werden für Formen von Diskriminierung sensibilisiert,
- wissen um individuelle und gesellschaftliche Folgen von Hate Speech und kennen Handlungsoptionen.
Folgende Themen wurden angesprochen:
- Kennenlernen des Mediennutzungsverhalten der Teilnehmenden
- Was ist Hate Speech?
- Diskriminierungssensibilisierung
- Vertiefung durch Kommentardekonstruktion
- Folgen von Hate Speech für Einzelpersonen und Gesellschaft
- Individuelle Handlungsmöglichkeiten gegen Hate Speech