Kritik an Versuch zur Abschreckung der Öffentlichkeit beim UNA    20/1 am 4.11.2022

Presseerklärung

  Kasseler Initiative NACHGEFRAGT für Demokratie, Aufklärung und
  Politische Bildung e. V.

 Als „Versuch zur Abschreckung der Öffentlichkeit“ kritisierte die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT die Entscheidung des Ausschussvorsitzenden Christian Heinz (CDU), die nächste Sitzung des Untersuchungsausschusses UNA 20/1 (Dr. Walter Lübcke) an zwei verschiedenen Orten in Wiesbaden durchzuführen. Die Vernehmung des Mörders Stefan Ernst im Landgericht Wiesbaden führe de facto zur Begrenzung der Plätze von Presse und Öffentlichkeit auf 30 Personen. Es sei zu erwarten, dass dies bei der Vernehmung eines wichtigen Zeugen dazu führe, dass zwischen interessierten Bürgerinnen und Bürgern und der Presse das Los über die Zulassung entscheiden werde.

„Die Rechte von Öffentlichkeit und Presse werden so dem Zufallsprinzip geopfert“, kritisiert der Vorsitzende von NACHGEFRAGT, Horst Paul Kuhley, die vorhersehbare Platzbeschränkung.

Die Kasseler Initiative hat nicht nur den jetzigen Untersuchungsausschuss, sondern auch den NSU-Untersuchungsausschuss der vorigen Wahlperiode begleitet. „Dort ist eine inhaftierte Zeugin mit Hand- und Fußfessel im Ausschuss bei unbeschränkter Öffentlichkeit verhört worden“, so Kuhley. Es sei nicht nachzuvollziehen, warum die Sicherheitsbedenken diesmal größer sein müssten, zumal Ernst sich doch als Aussteiger aus der rechtsradikalen Szene bezeichne. „Die Abschreckung von Öffentlichkeit wird auf die Spitze getrieben, indem die restliche Ausschusssitzung dann wieder im Landtagsgebäude stattfinden soll,“ kritisiert Kuhley auch das ‚Hin und Her der Schauplätze‘ innerhalb eines Termins. Die Formel des Ausschussvorsitzenden ‚Rücksicht auf Walter Lübcke an seiner Wirkungsstätte‘ ins Feld zu führen, sei der Gipfel der Scheinheiligkeit, so Kuhley. Dr. Walter Lübcke sei ein mutiger Demokrat gewesen. Sein Andenken werde am besten durch mutige Demokratie vor Ort gewahrt und nicht durch vorgetäuschte Bedenkenträgerei.

Mit der Bitte um Veröffentlichung

Horst Paul Kuhley

Hier die veröffentlichte Presseerklärung…

Podiumsgespräch
Gemeinsam gegen rechts? –
Was wir vom Aktionsplan gegen Rechtsextremismus des Bundesministeriums des
Inneren erwarten können

2. November 2022

Karlskirche, Karlsplatz

Am 15.3.2022 hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser den 10-Punkte-Aktionsplan gegen Rechtsextremismus vorgestellt. Sie erklärte dazu unter Anderem: „…Die größte extremistische Bedrohung für unsere Demokratie ist der Rechtsextremismus. Wir wollen Rechtsextremismus ganzheitlich und frühzeitig bekämpfen – mit Prävention und Härte…“

Vorstellung des Aktionsplanes: Esther Dilcher, Bundestagsabgeordnete, SPD Gesprächspartner: Dr. Rolf Gössner, Jurist, Publizist, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte Dr. Dr. Maximilian Pichl, Universität Kassel, Vertretungsprofessor Politische Theorie Moderation: Armin Ruda (Medienprojektzentrum Offener Kanal Kassel)

Wir begrüßen die grundsätzliche Zielrichtung des Aktionsplans sowie zahlreiche konkrete Absichtserklärungen, sehen allerdings weiteren Klärungs- und Diskussionsbedarf.
•Welche der 10 Punkte können mit Aussicht aufErfolg realisiert werden und welche konkretenHandlungsschritte sind dafür notwendig?

mehr: https://initiative-nachgefragt.de/wp-content/uploads/2022/10/end_Veranstaltung-2022-11-02-Aktionsplan-Gemeinsam-gegen-rechts.pdf

Alles ist gut! – Bericht von der 33. Sitzung des Untersuchungsausschusses UNA 20/1 (Dr. Walter Lübcke) am 7.10.2022

In seiner 33. Sitzung am 7.10.2022 vernahm der Untersuchungsausschuss UNA 20/1 (Dr. Walter Lübcke) zwei Zeugen und zwei Zeuginnen aus dem Umfeld des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen. Der ehemalige Präsident des Landesamts, Roland Desch, offenbarte sich als Zeuge von großer Ahnungslosigkeit und Erinnerungsschwäche. So behauptete er, seine Behörde habe alles getan, um eine Waffenbesitzkarte für Markus H., den Kumpel des Lübcke-Mörders Stefan Ernst, zu verhindern. „LfV Hessen versuchte, Erkenntnisse der Waffenbehörde zur Verfügung zu stellen. Was nicht von Erfolg gekrönt war.“ Das stellt die bekannten Tatsachen jedoch auf den Kopf. In Wirklichkeit hat die Kasseler Genehmigungsbehörde die Waffenbesitzkarte für H. verhindern wollen, ist jedoch vor dem Verwaltungsgericht gescheitert, weil der Hessische Verfassungsschutz seine Erkenntnisse über rechtsradikales Onlineverhalten von Markus H. dem Gericht nicht preisgab.

Auch ließ Desch ein Verfahren zu, in dem nach Bekannt-Werden des NSU in 2011 über tausend Akten von Rechtsradikalen für die Auswertung gesperrt wurden, unter ihnen die Akte von Stefan Ernst mit einem weit mehr als zehn Jahre langen Register von Gewalttaten und Verurteilungen. Erster einschlägig rechter Eintrag ist der rassistische (eventuell schwulenfeindliche) Messerangriff am Wiesbadener Hauptbahnhof 1992. Letzter einschlägiger Eintrag vor dem Mord war der Landfriedensbruch bei einer DGB-Demo am 1. Mai 2009 (Urteil 2010).

Um diese Sperrung ging es auch bei der Vernehmung des Zeugen Weidner, ehemaliger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, zuständig für Waffenbesitz von Rechtsradikalen. Er wurde zum zweiten Mal vernommen, weil er bei seinem ersten Erscheinen vor dem Ausschuss nur zum Thema Waffen befragt werden durfte. Die enge Auslegung des Beweisbeschlusses durch den Vorsitzenden verhinderte damals, dass er auch über Stefan Ernst befragt werden konnte. Nun bestätigte er die Angaben der Zeugin Rehwald aus dem Juli 2022, dass er sich gemeinsam mit ihr gegen die Sperrung von Ernsts Akte eingesetzt hatte. Er ging damals davon aus, dass sie ihre Bedenken auch schriftlich zu der Akte beigefügt hatte. Er jedenfalls habe Ernsts lange kriminelle und gewalttätige Karriere durch Computerausdruck aus den hessischen Datenbanken den zuständigen Sachbearbeitern zur Kenntnis gegeben, die sich über sein Votum hinweggesetzt hätten. Der entsprechende Vermerk, wie der von Rehwald, ist jedoch aus der Akte verschwunden. Der Abgeordnete Müller(CDU) ging den Zeugen damit an, dass er doch als Beamter hätte remonstrieren müssen. Sein Konterpart Müller (FDP) gab jedoch zu bedenken, dass das Remonstrationsrecht nur den eigentlichen Sachbearbeitern zugestanden hätte.

Die aktive Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes, die als nächste vernommen wurde, bestätigte die Glaubwürdigkeit der Zeugin Rehwald, deren Angaben durch die Ausschussmitglieder Goldbach (Grüne) und Bellino (CDU) bei den Sitzungen im Juli in Frage gestellt worden waren. Frau NN (Anonymität zugesichert) schilderte die Aktenführung von Frau Rehwald als extrem korrekt und unglaublich differenziert, so dass sie sich nicht vorstellen könne, dass Rehwald den verschwundenen Vermerk gegen die Sperrung von Ernsts Akte überhaupt nicht angefertigt habe. Auch sei sie in allgemeiner Form mit Frau Rehwald darüber einig gewesen, wie man in einem solchen Fall verfahren solle, da sie einen gleichartigen Fall betreut habe, in dem es auch um einen radikalen Sprengstofftäter ging.

Als letzte Zeugin wurde Iris Pilling, Abteilungsleiterin im Landesamt für Verfassungsschutz vernommen. Vorherige Vernehmungsaufforderungen hatte sie jeweils durch eine Krankmeldung kurz vor der Sitzung abgewehrt. Sie war in den Jahren nach 2011 Amtsleiterin im Bereich Rechtsextremismus. Unter ihrer Leitung entwickelte Frau Rehwald ein Verfahren, mit dem über die Sperrung von Akten rechtsradikaler Täter in einem Listenverfahren zu ca. 1400 Namen entschieden wurde. Sie bestätigte, dass differenzierte Listen erstellt wurden und zum Beispiel über siebzigjährige Rechtsradikale pauschal gesperrt werden konnten. Über andere Sperrungen sei zwischen ca. 2014 und 2016 mit Hilfe der Akten entschieden worden, die karrenweise in ihrem eigenen Büro abgeladen worden seien. Die Akten seien entweder dort oder auch im Büro von Sachbearbeitern gelesen worden und abends jeweils von ihr eingeschlossen worden. Der Vermerk von Eisvogel über Ernst als „brandgefährlich“ und seine Notiz „Wie militant ist der aktuell?“ habe sicher bei ihr zu Gesprächen mit den Dezernatsleitern geführt, allerdings hätten offensichtlich keine neuen Erkenntnisse vorgelegen und Nachermittlungen seien wahrscheinlich nicht gemacht worden.

Fazit: Es ist verständlich, dass Eisvogel bei erster Gelegenheit das hessische Landesamt verließ, weil die politische Spitze nicht bereit war, die notwendigen Stellen und die notwendigen sachlichen Veränderungen zu genehmigen. Auch sein Nachfolger konnte nur drei seiner Verfassungsschützer im Bundesamt ausbilden lassen, alle anderen waren nach wie vor nur angelernte Verwaltungssachbearbeiter. Dass dies im Fall von Frau Rehwald trotzdem zu einer guten Ausbildung ihrer Nachfolgerin führte, war ihrer persönlichen Initiative geschuldet. Auch bei ihr muss man aber davon ausgehen, dass sie das Amt verließ, weil zum Beispiel im Fall von Stefan Ernst ihre kompetenten Einwände durch Dezernatsleitungen und Abteilungsleitungen wie Frau Pilling einfach vom Tisch gewischt wurden.

Als besondere Ironie muss man es beurteilen, dass ausgerechnet das Datenschutzinteresse von Rechtsradikalen als Begründung für die Sperrung ihrer Akten herhalten muss.

Man vergleiche die dauerhafte Bespitzelung von Sylvia Gingold mit der Sperrung der Akte von Stefan Ernst trotz der kriminellen Karriere, dann wird deutlich, dass der hessische Verfassungsschutz seit Jahrzehnten auf dem rechten Auge blind war und wahrscheinlich immer noch ist, weil kompetente Mitarbeiter/innen wie Frau Rehwald und Herr Weidner dort nur stören. Auch muss man CDU und Grünen im Ausschuss bescheinigen, dass sie ständig versuchen, sachlich kompetente Zeugen als unglaubwürdig darzustellen. Deshalb wird wahrscheinlich das Votum dieser Fraktionen zu den Ausschussergebnissen im kommenden Jahr darauf hinauslaufen: Alles ist gut!

Auf der Zielgeraden – Der Untersuchungsausschuss 20/1 (Dr. Walter Lübcke) im Hessischen Landtag

Der Untersuchungsausschuss 20/1 (Dr. Walter Lübcke) wurde im Sommer 2020 vom Hessischen Landtag in Wiesbaden mit einem einstimmigen Beschluss eingesetzt, um ungelösten Fragen zur rechten Szene in Nordhessen nachzugehen und Behördenversäumnisse im Zusammenhang mit dem Mord an Walter Lübcke aufzuarbeiten. Er hat inzwischen mehr als dreißig Mal, zumeist öffentlich, getagt und wird im Sommer 2023 einen Ergebnisbericht vorlegen. Noch immer aber gibt es zahlreiche offene Fragen, zu denen weitere Zeuginnen und Zeugen gehört werden sollen. Bis zum März 2023 sind folgende Termine geplant:

07. 10. 2022

04. 11. 2022

25. 11. 2022

14. 12. 2022

20. 01. 2023

23. 02. 2023

März 2023 (noch optional)

Beginn der öffentlichen Sitzungen ist in der Regel 9:30 Uhr. Man sollte sich rechtzeitig am Eingang Grabenstraße einfinden. Dort wird ab 9:00 Uhr auch ein Corona-Test angeboten, der jedoch derzeit (Stand 1.9.2022) nicht verpflichtend ist, ebenso wenig das Maske-Tragen.

Die Wahrnehmung von Bürgerrechten ist ein Eckpfeiler der Demokratie. Deshalb nehmen wir als Initiative NACHGEFRAGT schon seit Beginn der Beratungen die Möglichkeit wahr, an den öffentlichen Sitzungen im Untersuchungsausschuss als „Interessierte Öffentlichkeit“ teilzunehmen. Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, sich zu diesen Sitzungen anzumelden.

Das Anmeldeverfahren

Die Anmeldung ist digital mit einem Formular oder auch formlos unter dem Link una20-1@ltg.hessen.de möglich. Die Webseite mit den Anmeldemodalitäten wird etwa 8 – 10 Tage vor dem jeweiligen Ausschusstermin geöffnet (zu finden unter: „Anmeldung zum Lübcke-Untersuchungsausschuss am…“). Die Anmeldebestätigung mit Zusage eines Platzes erfolgt wenige Tage später, unmittelbar danach wird die Einladung mit Tagesordnung veröffentlicht. Die Anzahl der Plätze auf der Zuschauertribüne ist begrenzt, die Zahl der Interessierten in der Regel allerdings auch, sodass bisher alle unsere Anmeldungen berücksichtigt werden konnten.

Das öffentliche Interesse an der Arbeit des Untersuchungsausschusses hat inzwischen leider abgenommen, so dass es manchmal recht einsam auf der Zuschauertribüne ist. Ähnliches gilt für die Anzahl der Pressevertreter und die spärlicher werdende Berichterstattung in den Medien. Das ist auch für die Ausschussmitglieder enttäuschend, und das Desinteresse belastet sie. Andererseits sind die Abgeordneten interessiert an den Rückmeldungen der Öffentlichkeit zum Beispiel in Sitzungspausen oder per eMail.

Zugegeben: nicht immer ist die Teilnahme an den öffentlichen Ausschuss-Sitzungen vergnügungssteuerpflichtig. Manche Zeugenbefragungen gestalten sich zäh und die Tage in Wiesbaden werden oft lang. Für die Mitglieder von NACHGEFRAGT kommen je zweieinhalb Stunden für die Hin- und Rückfahrt hinzu. Noch immer ist aber auch mit überraschenden Erkenntnissen und unerwarteten Highlights zu rechnen, wie zum Beispiel dem schonungslos klaren Urteil eines früheren Verfassungsschutzchefs oder der anschaulichen Schilderung einer ehemaligen VS-Mitarbeiterin, welche die ganze Misere der ‚schnellen Aktenlöschungen‘ offenbarte.

Deshalb ermutigen wir alle Bürgerinnen und Bürger zur Teilnahme an den Sitzungen, um sich selbst ein Bild von der Arbeit der Abgeordneten und dem Verhalten der Zeugen zu verschaffen. Von Abgeordneten verschiedener Parteien ist uns versichert worden, dass die eigene Fragehaltung und die Nachdrücklichkeit bei der Zeugenvernehmung durch anwesende „Öffentlichkeit“ durchaus unterstützt wird.

Wenn Sie Interesse an einer Teilnahme und/oder Schwierigkeiten bei der Anmeldung haben, kontaktieren Sie uns unter initiativenachgefragt@gmx.de.

Podiumsdiskussion Wie die Spinne im Netz… Thorsten Heise und die rechte Szene in der Region

Podiumsdiskussion mit:

Luisa Hecker, Wissenschaftliche Referentin im Unter-suchungsausschuss 20/1, Dr. Walter Lübcke

Joachim Tornau, Journalist und Rechtsextremismus-Experte, Pressebeobachter beim sog. Fretterode-Prozess

Kai Budler, Rechtsextremismus-Experte, Autor der Broschüre „Zwischen Gewalt, Rechtsrock und Kommerz“

Nathan Niedermeier, Publizist, Recherche-Stipendiat von CORRECTIV

Moderation: Christopher Vogel, Mobiles Beratungsteam – mbt

Hier anhören: https://www.dropbox.com/sh/xewdgzbdmgs8izt/AABjStrgmL7R5chDE6k4BHSra?dl=0

23. Juli 2022, 15.00 – 17.00 Uhr
Kulturzentrum Schlachthof, Großer Saal

Spinne im Netz oder Honigtopf vom Dienst? Schon seit Jahren taucht im Zusammenhang mit rechtsterroristischen Netzwerken immer wieder der Name von Thorsten Heise auf. So ging es im hessischen Untersuchungsausschuss 20/1 (Dr. Walter Lübcke) zuletzt umein Foto, auf dem Markus Hartmann und der spätere Lübcke-Mörder Stefan Ernst bei einer Sonnenwendfeier auf Heises Anwesen identifiziert wurden. Außerdem läuft noch immer ein Strafprozess wegen eines bewaffneten Angriffs auf zwei Journalisten, die in Fretterode, dem Wohnort Heises, recherchierten. Auch einer der Söhne von Heise war daran beteiligt. Alle Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion haben sich schon lange mit den rechten Netzwerken im „Dreiländereck“ Nordhessen-Thüringen- Südniedersachsen beschäftigt und verfügen über intensive Kenntnisse der Beziehungen zwischen den Neonazis unserer Region und darüber hinaus. Die Diskussion soll mehr Klarheit über die Neonazi-Netz-werke erbringen und über die Rolle, die der bekannte Nazi Thorsten Heise darin spielt. Ist er Antreiber, Anstifter und Knotenpunkt in den Netzwerken oder sammelt er auch gezielt Informationen, um sie weiterzugeben (und an wen)? Und nicht zuletzt: Welche Konsequenzen für die weitere politische Arbeit lassen sich daraus ableiten?

Expertengespräch: Machtlos gegen rechten Terror? Warum kommt die Aufklärung rechtsterroristischer Gewalttaten nicht voran?

Mit:

Stefan Rüppel, stellvertretender Vorsitzender der GdP Hessen
Mario Melzer, ehem. NSU-Ermittler Thüringen, Mitarbeiter Polizeigeschichtliche Sammlung an den Bildungseinrichtungen Meiningen
Rafael Behr, Professor an der Polizeiakademie Hamburg
Dr. Michael Lacher, Initiative NACHGEFRAGT e.V. Moderation: Lukas Kiepe, Universität Kassel
16. März 2022, 18.00 bis 20.00 Uhr

NSU-Morde, Terror in Halle, Mord an Dr. Walter Lübcke, Terror in Hanau, NSU 2.0 – es scheint, als ob die staatlichen Institutio-nen gegen den gewaltbereiten Rechtsextre-mismus schlecht aufgestellt sind. Dazu kommt eine politische Führung, deren Inte-resse an einer umfassenden Aufklärung oft kaum erkennbar ist.
▪ Was muss sich ändern, damit rechter Terror verhindert werden kann?
▪ Warum fühlen sich aufklärungsbereite Polizisten behindert oder alleinge-lassen?
▪ Welche Strukturen innerhalb der Polizei fördern ‚blinde Flecken‘ bei der Aufklä-rung und das Wegschauen bei systema-tischen Fehlern und der Reproduktion rassistischer Ideologien?
▪ Welchen Anteil an der Problematik haben Vertuschungsstrategien der poli-tischen Führung?
Dies sind Fragen, die das Expertengespräch erörtert hat

Ansehen: https://www.mediathek-hessen.de/medienview_24748_Lukas-Kiepe-OK-Kassel-Machtlos-gegen-rechten-Terro.html

Kurzporträt von NACHGEFRAGT

Auch Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU
bleiben entscheidende Fragen zum NSU-Komplex
und zu den Morden an Halit Yozgat und Dr.
Walter Lübcke unaufgeklärt. Hier ist eine
zentrale Aufgabe von NACHGEFRAGT für
Demokratie, Aufklärung und politische Bildung
e. V.
Seit 2017 arbeiten wir daran, die Netzwerke der
nordhessischen Neonazis aufzudecken. Wir
finden uns nicht damit ab, dass Polizei, Justiz
und Verfassungsschutz nur unzureichend Licht
in diese Netzwerke in Nordhessen und den angrenzenden
Bundesländern bringen.
Von Beginn an haben wir in zahlreichen Veranstaltungen
Informations- und Diskussionsangebote
für bis zu 250 Teilnehmer gemacht.
Kooperationspartner waren dabei u.a. die GEW,
der DGB Region Nordhessen, die Volkshochschule
Kassel, das Evangelische Forum Kassel,
das Team des Festivals NDRS und das Medienprojektzentrum
Offener Kanal. Thematisch
haben wir uns nicht nur mit der rechten Szene
in Nordhessen, sondern auch mit Nazi-Frau-en
beschäftigt und die Arbeit der hessischen
Untersuchungsausschüsse zu den NSU-Morden
und zum Mord an Dr. Walter Lübcke vorgestellt.
Kritisch beleuchtet wurden von uns das Behördenversagen
bei der Aufklärung rechter Gewalttaten
und das Agieren des Verfassungsschutzes,
insbesondere die dubiose Rolle des damaligen
Verfassungsschützers Andreas Temme beim
Mord an Halit Yozgat.

In unserem aktuellen Flyer erfahren Sie mehr:https://initiative-nachgefragt.de/wp-content/uploads/2022/06/Flyer-NACHGEFRAGT_end_06_2022.pdf

Arbeitsschwerpunkt Politische Bildung

Wann, wenn nicht jetzt!

Wo und wie fängt man es an, ein Bildungsangebot  zu aufzubauen, das zur ‚demokratischen Teilhabe ermutigt‘ und ‚Menschen befähigt, sich kritisch mit rechter Propaganda auseinanderzusetzen‘? Angesichts der Fülle, vor allem aber der Dringlichkeit möglicher Ansatzpunkte gibt es dafür keine einfachen oder gar eindeutigen Lösungen. Leichter ist dagegen die Frage nach dem ‚Wann‘ zu beantworten: Wann, wenn nicht jetzt!? 

Ein flotter Slogan, vielfach zitiert und verwendbar in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, immer dann, wenn Veränderung, Verbesserung, Weiterentwicklung  angesagt ist. Nicht zuletzt lautete so das Motto einer Tagung zur Politischen Bildung im Herbst 2018 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar, aus der auch die ‚Hofgeismarer Erklärung‘  hervorgegangen ist. Die Bestandsaufnahme, die bei dieser Tagung vorgenommen wurde, kam zu einem recht deprimierenden Ergebnis: die formale Politische Bildung wurde in Hessen in den letzten Jahrzehnten heruntergewirtschaftet, kaputtgespart oder zur gefälligen Unkenntlichkeit umdefiniert. In den Schulen findet sie nur noch am Rande statt und auch die ehemals blühende außerschulische Bildung darbt vor sich hin (einzelne kleine ‚Leuchtturmprojekte‘ ausgenommen, aber die machen die bildungspolitische Nacht nicht hell genug). 

Die Konsequenzen sind augenfällig. Politisches Interesse und gesellschaftliches Engagement lassen deutlich nach. Gleichzeitig schwindet die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit einer exorbitant wachsenden Informationsfülle, vor allem in den digitalen Medien. Dies betrifft keineswegs nur Jugendliche. Aus der erschreckenden Geschwindigkeit und Aggressivität, mit der sich Emotionalisierungskampagnen und Hassreden im Netz ausbreiten, resultierte für uns deshalb ein dringlicher  Handlungsbedarf im Themenfeld Hate Speech/Hate Breach. Auch wenn überproportional viele unserer aktiven Mitstreiter/innen aus dem Lehrerberuf kommen, sahen wir die vorrangige Adressatengruppe für entsprechende Bildungsangebote zunächst im Bereich der Erwachsenenbildung. 

Hate Speech und Hate Breach – Bildungsangebote für Schulen der Region

Eine Anfrage aus der Alten Landesschule in Korbach (ALS) führte allerdings zu einem klassischen Workshop-Angebot für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I. Als Kooperationspartner konnten wir dafür die Kopiloten e. V. gewinnen. Mit vielfältigen Erfahrungen aus ihrem erprobten Hatebreach – Programm haben sie im November 2019 an der ALS einen handlungsorientierten Workshop für die Jahrgangsstufe 8 organisiert, der nicht nur der Sensibilisierung für Ursachen und Formen digitaler Hasskampagnen diente, sondern auch Gegenstrategien aufzeigen sollte. Die Rückmeldungen zu diesem Pilotprojekt waren positiv. Eine längerfristige Zusammenarbeit mit der ALS deutete sich an, und es gab Interesse von anderen Schulen aus dem Landkreis. Wir hofften, auch perspektivisch ein strukturiertes Angebot für Schulen ermöglichen zu können.

Aber dann kam Corona – und damit das vorläufige Aus für schulische Präsenzangebote, zumal  in der Zusammenarbeit mit außerschulischen Bildungsträgern. Die weitere Entwicklung ist immer noch nicht absehbar. Da aber schulische Workshops zum Thema Hatespeech, obwohl – oder gerade weil –  sie Elemente der digitalen Kommunikation fokussieren, unserer Meinung nach nicht vorrangig instruktiv sein dürfen und deshalb auch nicht ohne unmittelbare Interaktion auskommen, liegt die Zusammenarbeit mit Schulen zunächst einmal auf Eis. Wir warten ab, bis auch analoge Begegnungen wieder möglich sind. 

Ein strukturiertes Bildungsangebot für junge Erwachsene

Nicht nur in dieser Situation hat sich die von Beginn an vereinbarte Begleitung durch die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) als sehr hilfreich erwiesen. Wir freuen uns über Ermutigung und manch guten Rat zur rechten Zeit. Hinweise aus der FES halfen uns zum Beispiel, die coronabedingte Unterbrechung unserer Zusammenarbeit mit Schulen nicht nur als Verlust, sondern auch als Chance zu begreifen, uns verstärkt der Zielgruppe ‚Junge Erwachsene‘ zuzuwenden und damit an unsere ursprüngliche Positionierung in der Erwachsenenbildung anzuknüpfen. Junge Erwachsene – so zeigen nicht nur die Studien der FES – sind  diejenige Zielgruppe, die durch die vorhandenen politischen Bildungsprogramme kaum angesprochen wird. Der formalen schulischen Bildung sind sie entwachsen, die traditionellen Angebote der Erwachsenbildung durch Vereine, Gewerkschaften oder etwa die VHS erreichen sie noch (?) nicht. Gleichzeitig ist diese Generation in den ‚Echokammern‘ des Internet, in den Kommentarfunktionen, Messenger-Diensten, Foren oder Sozialen Netzwerken besonders aktiv vertreten. 

Es liegt also nahe, ein adressatenbezogenes, spezifiziertes Bildungsangebot für diese Gruppe zu entwickeln. Eine Herausforderung wird darin bestehen, analoge Umsetzungsmöglichkeiten zu definieren und/oder Formate des Blended Learning zu erarbeiten, die auch Präsenzphasen explizit einschließen. Denn: ohne die unmittelbare Kommunikation, ohne direkte Begegnung, ohne realen Diskurs und Erfahrungslernen geht es nicht – gerade wenn demokratische Teilhabe, Selbstwirksamkeit und soziale Sensibilisierung zu den zentralen Bildungszielen gehören.

Eher mittelfristig einzuordnen sind unsere Überlegungen zur Entwicklung von Bildungsmodulen für Multiplikatoren in der betrieblichen Ausbildung. Grundsätzlich können wir uns auch vorstellen an Angeboten zur Stärkung demokratischer Teilhabe im ländlichen Raum mitzuwirken, optional in Zusammenarbeit mit Institutionen, die schon länger in dieser Hinsicht aktiv sind (wie z. B. die Adam-von Trott-Stiftung). Aktive Mitarbeit in jeder Form, konstruktiver Rat und gute Ideen gerne erwünscht!

Von großen Einzelveranstaltungen zu thematischen Reihen – unser Veranstaltungsprogramm

Auch unsere großen öffentlichen Veranstaltungen haben zur politischen Bildung beigetragen, selbst wenn sie nicht dezidiert unter den Gesichtspunkten eines ‚Bildungs‘anspruchs im engeren Sinne konzipiert waren. Als Informations- und Diskussionsangebote waren sie vor allem Bestandteil der öffentlichen Meinungsbildung. Sie dienten der Aufklärung über neonazistische Strukturen und boten sowohl parlamentarischen Gremien wie dem NSU-Untersuchungsausschuss als auch Journalisten und zivilgesellschaftlichen Rechercheuren die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse publik zu machen und dadurch notwendige Debatten anzustoßen. 

Seit 2017 haben wir in lockerer Folge insgesamt fünf solcher Veranstaltungen organisiert (siehe auch Veranstaltungen); in der Regel in den Räumen der Universität Kassel, alle mit großer öffentlicher Resonanz und weit über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Bewährte Kooperationspartner waren dabei auch andere Bildungsträger wie die GEW und die Volkshochschule Kassel. Thematisch haben wir uns im Sinne unserer politischen Ziele mit verschiedenen Aspekten der rechten Szene in Nordhessen und den angrenzenden Regionen beschäftigt, die Arbeit der NSU-Untersuchungsausschüsse in Hessen und im Bund vorgestellt, vor allem aber mehrfach das Behördenversagen bei der Aufklärung rechter Gewalttaten und die Rolle des Verfassungsschutzes kritisch beleuchtet. Da wir durchgehend Expertinnen und Experten aus parlamentarischen Untersuchungsausschüssen sowie qualifizierte journalistische Fachleute auf unseren Podien zu Gast hatten, konnten wir einschlägiges Wissen und manchmal sogar Informationen aus erster Hand vermitteln. Die Perspektive der Opfer von rechter Gewalt wurde  besonders authentisch von der in doppelter Weise betroffenen Anwältin Seda Basay-Yildiz und einem erfahrenen Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams Hessen eingebracht. 

Schon unter Corona-Bedingungen und mit deshalb deutlich eingeschränkter Teilnehmer/innenzahl haben wir uns im September 2020 mit kleineren Angeboten an dem Festival von ‚Nach dem Rechten sehen‘ beteiligt (siehe Veranstaltungen). Dabei ging es einerseits um den neuen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ‚UNA 20/1 – Dr. Walter Lübcke‘, insbesondere um Hintergrundwissen über dessen erschwerte Startbedingungen, andererseits um einen ersten Einblick in die genderspezifische Thematik von ‚Frauen in der rechten Szene‘.

Alle bisherigen Veranstaltungen waren ausdrücklich an unseren allgemeinen politischen Ziele orientiert (s. o.). Gleichzeitig haben wir bei der Organisation zeitnah auf aktuelle Entwicklungen und Ereignisse reagieren und damit ein für uns zentrales Arbeitsprinzip bisher gut umsetzen können: Zielklarheit, Offenheit und Flexibilität in guter Balance! 

Wie geht es weiter? 

Diesem Prinzip möchten wir auch in Zukunft folgen. Wir freuen uns sehr, dass inzwischen wieder Präsenzangebote möglich sind, wenn auch vorläufig noch nicht in der gleichen Größenordnung wie früher. Im Sinne der Nachhaltigkeit sind wir zunehmend dazu übergegangen, statt singulärer Großveranstaltungen thematische Reihen in jeweils überschaubarem Rahmen zu definieren. Konkret sind für das aktuelle Programmjahr folgende Veranstaltungsreihen geplant:

In einer Gesprächsreihe, die  vom „Offenen Kanal Kassel“ aufgezeichnet und gesendet wird, begleitet die Initiative weiterhin kontinuierlich die Arbeit des Hessischen Untersuchungsausschusses UNA 20/1 (Dr. Walter Lübcke). Dabei haben Landtagsabgeordnete die Gelegenheit, über ihre Arbeit im Ausschuss zu berichten, mit Vertretern der Zivilgesellschaft ins Gespräch zu kommen und Fragen und Anregungen von Bürgerinnen und Bürgern für ihre Arbeit aufzunehmen. Als Gäste werden auch zukünftig Mitglieder des Untersuchungsausschusses aus den demokratischen Parteien sowie engagierte Bürgerinnen und Bürger eingeladen.

Eine zweite Serie von Veranstaltungen befasst sich mit Frauen in der rechten Szene. Sie begann mit einer Einführung in die Problematik von Sonja Brasch (NSU-Watch) bereits in 2020 und wird in 2021 zu spezifischen Aspekten fortgesetzt, zum Beispiel zu den Strategien rechter Influencerinnen und zu Rollenmustern und Aktionsformen von Frauen in der rechten Szene. Referentinnen sind ausgewiesene Expertinnen wie Natascha Strobl (Politikwissenschaftlerin, Wien) und Michaela Köttig (Konfliktforscherin, Professorin an der Frankfurt University of Applied Science). 

Eine Reihe zum Thema ‚Rechtsterrorismus als Herausforderung staatlichen Handels‘ beginnt am 30. 09. 2021 mit einer Buchvorstellung des Autors und Rechtsextremismusexperten Martín Steinhagen und wird und im Frühjahr 2022 mit dem Journalisten Ronen Steinke (SZ) zur Rolle der Justiz im Kampf gegen Rechts fortgesetzt.

Die genannten Veranstaltungsserien gehen als Beiträge von NACHGEFRAGT in die vom Evangelischen Forum Kassel sowie weiteren Kooperationspartnern ausgerichtete Jahresreihe ‚Demokratie stärken – Gegen Hass und Terror‘ ein, sollen aber auch eigenständig weiterentwickelt werden. Einzelne Veranstaltungen wurden zudem im Sommer 2021 wiederum im Rahmen des jährlichen Festivals ‚Nach dem Rechten sehen‘ organisiert. Durch die Beteiligung an variierenden  Kooperationsverbünden  können wir  unterschiedliche Zielgruppen erreichen und hoffen, so zu einem lebendigen politischen Diskurs beizutragen. 

Wann, wenn nicht jetzt!

Wo und wie fängt man es an, ein Bildungsangebot  zu aufzubauen, das zur ‚demokratischen Teilhabe ermutigt‘ und ‚Menschen befähigt, sich kritisch mit rechter Propaganda auseinanderzusetzen‘? Angesichts der Fülle, vor allem aber der Dringlichkeit möglicher Ansatzpunkte gibt es dafür keine einfachen oder gar eindeutigen Lösungen. Leichter ist dagegen die Frage nach dem ‚Wann‘ zu beantworten: Wann, wenn nicht jetzt!? 

Ein flotter Slogan, vielfach zitiert und verwendbar in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, immer dann, wenn Veränderung, Verbesserung, Weiterentwicklung  angesagt ist. Nicht zuletzt lautete so das Motto einer Tagung zur Politischen Bildung im Herbst 2018 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar, aus der auch die ‚Hofgeismarer Erklärung‘  hervorgegangen ist. Die Bestandsaufnahme, die bei dieser Tagung vorgenommen wurde, kam zu einem recht deprimierenden Ergebnis: die formale Politische Bildung wurde in Hessen in den letzten Jahrzehnten heruntergewirtschaftet, kaputtgespart oder zur gefälligen Unkenntlichkeit umdefiniert. In den Schulen findet sie nur noch am Rande statt und auch die ehemals blühende außerschulische Bildung darbt vor sich hin (einzelne kleine ‚Leuchtturmprojekte‘ ausgenommen, aber die machen die bildungspolitische Nacht nicht hell genug). 

Die Konsequenzen sind augenfällig. Politisches Interesse und gesellschaftliches Engagement lassen deutlich nach. Gleichzeitig schwindet die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit einer exorbitant wachsenden Informationsfülle, vor allem in den digitalen Medien. Dies betrifft keineswegs nur Jugendliche. Aus der erschreckenden Geschwindigkeit und Aggressivität, mit der sich Emotionalisierungskampagnen und Hassreden im Netz ausbreiten, resultierte für uns deshalb ein dringlicher  Handlungsbedarf im Themenfeld Hate Speech/Hate Breach. Auch wenn überproportional viele unserer aktiven Mitstreiter/innen aus dem Lehrerberuf kommen, sahen wir die vorrangige Adressatengruppe für entsprechende Bildungsangebote zunächst im Bereich der Erwachsenenbildung. 

Hate Speech und Hate Breach – Bildungsangebote für Schulen der Region

Eine Anfrage aus der Alten Landesschule in Korbach (ALS) führte allerdings zu einem klassischen Workshop-Angebot für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I. Als Kooperationspartner konnten wir dafür die Kopiloten e. V. gewinnen. Mit vielfältigen Erfahrungen aus ihrem erprobten Hatebreach – Programm haben sie im November 2019 an der ALS einen handlungsorientierten Workshop für die Jahrgangsstufe 8 organisiert, der nicht nur der Sensibilisierung für Ursachen und Formen digitaler Hasskampagnen diente, sondern auch Gegenstrategien aufzeigen sollte. Die Rückmeldungen zu diesem Pilotprojekt waren positiv. Eine längerfristige Zusammenarbeit mit der ALS deutete sich an, und es gab Interesse von anderen Schulen aus dem Landkreis. Wir hofften, auch perspektivisch ein strukturiertes Angebot für Schulen ermöglichen zu können.

Aber dann kam Corona – und damit das vorläufige Aus für schulische Präsenzangebote, zumal  in der Zusammenarbeit mit außerschulischen Bildungsträgern. Die weitere Entwicklung ist immer noch nicht absehbar. Da aber schulische Workshops zum Thema Hatespeech, obwohl – oder gerade weil –  sie Elemente der digitalen Kommunikation fokussieren, unserer Meinung nach nicht vorrangig instruktiv sein dürfen und deshalb auch nicht ohne unmittelbare Interaktion auskommen, liegt die Zusammenarbeit mit Schulen zunächst einmal auf Eis. Wir warten ab, bis auch analoge Begegnungen wieder möglich sind. 

Ein strukturiertes Bildungsangebot für junge Erwachsene

Nicht nur in dieser Situation hat sich die von Beginn an vereinbarte Begleitung durch die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) als sehr hilfreich erwiesen. Wir freuen uns über Ermutigung und manch guten Rat zur rechten Zeit. Hinweise aus der FES halfen uns zum Beispiel, die coronabedingte Unterbrechung unserer Zusammenarbeit mit Schulen nicht nur als Verlust, sondern auch als Chance zu begreifen, uns verstärkt der Zielgruppe ‚Junge Erwachsene‘ zuzuwenden und damit an unsere ursprüngliche Positionierung in der Erwachsenenbildung anzuknüpfen. Junge Erwachsene – so zeigen nicht nur die Studien der FES – sind  diejenige Zielgruppe, die durch die vorhandenen politischen Bildungsprogramme kaum angesprochen wird. Der formalen schulischen Bildung sind sie entwachsen, die traditionellen Angebote der Erwachsenbildung durch Vereine, Gewerkschaften oder etwa die VHS erreichen sie noch (?) nicht. Gleichzeitig ist diese Generation in den ‚Echokammern‘ des Internet, in den Kommentarfunktionen, Messenger-Diensten, Foren oder Sozialen Netzwerken besonders aktiv vertreten. 

Es liegt also nahe, ein adressatenbezogenes, spezifiziertes Bildungsangebot für diese Gruppe zu entwickeln. Eine Herausforderung wird darin bestehen, analoge Umsetzungsmöglichkeiten zu definieren und/oder Formate des Blended Learning zu erarbeiten, die auch Präsenzphasen explizit einschließen. Denn: ohne die unmittelbare Kommunikation, ohne direkte Begegnung, ohne realen Diskurs und Erfahrungslernen geht es nicht – gerade wenn demokratische Teilhabe, Selbstwirksamkeit und soziale Sensibilisierung zu den zentralen Bildungszielen gehören.

Eher mittelfristig einzuordnen sind unsere Überlegungen zur Entwicklung von Bildungsmodulen für Multiplikatoren in der betrieblichen Ausbildung. Grundsätzlich können wir uns auch vorstellen an Angeboten zur Stärkung demokratischer Teilhabe im ländlichen Raum mitzuwirken, optional in Zusammenarbeit mit Institutionen, die schon länger in dieser Hinsicht aktiv sind (wie z. B. die Adam-von Trott-Stiftung). Aktive Mitarbeit in jeder Form, konstruktiver Rat und gute Ideen gerne erwünscht!

Von großen Einzelveranstaltungen zu thematischen Reihen – unser Veranstaltungsprogramm

Auch unsere großen öffentlichen Veranstaltungen haben zur politischen Bildung beigetragen, selbst wenn sie nicht dezidiert unter den Gesichtspunkten eines ‚Bildungs‘anspruchs im engeren Sinne konzipiert waren. Als Informations- und Diskussionsangebote waren sie vor allem Bestandteil der öffentlichen Meinungsbildung. Sie dienten der Aufklärung über neonazistische Strukturen und boten sowohl parlamentarischen Gremien wie dem NSU-Untersuchungsausschuss als auch Journalisten und zivilgesellschaftlichen Rechercheuren die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse publik zu machen und dadurch notwendige Debatten anzustoßen. 

Seit 2017 haben wir in lockerer Folge insgesamt fünf solcher Veranstaltungen organisiert (siehe auch Veranstaltungen); in der Regel in den Räumen der Universität Kassel, alle mit großer öffentlicher Resonanz und weit über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Bewährte Kooperationspartner waren dabei auch andere Bildungsträger wie die GEW und die Volkshochschule Kassel. Thematisch haben wir uns im Sinne unserer politischen Ziele mit verschiedenen Aspekten der rechten Szene in Nordhessen und den angrenzenden Regionen beschäftigt, die Arbeit der NSU-Untersuchungsausschüsse in Hessen und im Bund vorgestellt, vor allem aber mehrfach das Behördenversagen bei der Aufklärung rechter Gewalttaten und die Rolle des Verfassungsschutzes kritisch beleuchtet. Da wir durchgehend Expertinnen und Experten aus parlamentarischen Untersuchungsausschüssen sowie qualifizierte journalistische Fachleute auf unseren Podien zu Gast hatten, konnten wir einschlägiges Wissen und manchmal sogar Informationen aus erster Hand vermitteln. Die Perspektive der Opfer von rechter Gewalt wurde  besonders authentisch von der in doppelter Weise betroffenen Anwältin Seda Basay-Yildiz und einem erfahrenen Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams Hessen eingebracht. 

Schon unter Corona-Bedingungen und mit deshalb deutlich eingeschränkter Teilnehmer/innenzahl haben wir uns im September 2020 mit kleineren Angeboten an dem Festival von ‚Nach dem Rechten sehen‘ beteiligt (siehe Veranstaltungen). Dabei ging es einerseits um den neuen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ‚UNA 20/1 – Dr. Walter Lübcke‘, insbesondere um Hintergrundwissen über dessen erschwerte Startbedingungen, andererseits um einen ersten Einblick in die genderspezifische Thematik von ‚Frauen in der rechten Szene‘.

Alle bisherigen Veranstaltungen waren ausdrücklich an unseren allgemeinen politischen Ziele orientiert (s. o.). Gleichzeitig haben wir bei der Organisation zeitnah auf aktuelle Entwicklungen und Ereignisse reagieren und damit ein für uns zentrales Arbeitsprinzip bisher gut umsetzen können: Zielklarheit, Offenheit und Flexibilität in guter Balance! 

Wie geht es weiter? 

Diesem Prinzip möchten wir auch in Zukunft folgen. Wir freuen uns sehr, dass inzwischen wieder Präsenzangebote möglich sind, wenn auch vorläufig noch nicht in der gleichen Größenordnung wie früher. Im Sinne der Nachhaltigkeit sind wir zunehmend dazu übergegangen, statt singulärer Großveranstaltungen thematische Reihen in jeweils überschaubarem Rahmen zu definieren. Konkret sind für das aktuelle Programmjahr folgende Veranstaltungsreihen geplant:

In einer Gesprächsreihe, die  vom „Offenen Kanal Kassel“ aufgezeichnet und gesendet wird, begleitet die Initiative weiterhin kontinuierlich die Arbeit des Hessischen Untersuchungsausschusses UNA 20/1 (Dr. Walter Lübcke). Dabei haben Landtagsabgeordnete die Gelegenheit, über ihre Arbeit im Ausschuss zu berichten, mit Vertretern der Zivilgesellschaft ins Gespräch zu kommen und Fragen und Anregungen von Bürgerinnen und Bürgern für ihre Arbeit aufzunehmen. Als Gäste werden auch zukünftig Mitglieder des Untersuchungsausschusses aus den demokratischen Parteien sowie engagierte Bürgerinnen und Bürger eingeladen.

Eine zweite Serie von Veranstaltungen befasst sich mit Frauen in der rechten Szene. Sie begann mit einer Einführung in die Problematik von Sonja Brasch (NSU-Watch) bereits in 2020 und wird in 2021 zu spezifischen Aspekten fortgesetzt, zum Beispiel zu den Strategien rechter Influencerinnen und zu Rollenmustern und Aktionsformen von Frauen in der rechten Szene. Referentinnen sind ausgewiesene Expertinnen wie Natascha Strobl (Politikwissenschaftlerin, Wien) und Michaela Köttig (Konfliktforscherin, Professorin an der Frankfurt University of Applied Science). 

Eine Reihe zum Thema ‚Rechtsterrorismus als Herausforderung staatlichen Handels‘ beginnt am 30. 09. 2021 mit einer Buchvorstellung des Autors und Rechtsextremismusexperten Martín Steinhagen und wird und im Frühjahr 2022 mit dem Journalisten Ronen Steinke (SZ) zur Rolle der Justiz im Kampf gegen Rechts fortgesetzt.

Die genannten Veranstaltungsserien gehen als Beiträge von NACHGEFRAGT in die vom Evangelischen Forum Kassel sowie weiteren Kooperationspartnern ausgerichtete Jahresreihe ‚Demokratie stärken – Gegen Hass und Terror‘ ein, sollen aber auch eigenständig weiterentwickelt werden. Einzelne Veranstaltungen wurden zudem im Sommer 2021 wiederum im Rahmen des jährlichen Festivals ‚Nach dem Rechten sehen‘ organisiert. Durch die Beteiligung an variierenden  Kooperationsverbünden  können wir  unterschiedliche Zielgruppen erreichen und hoffen, so zu einem lebendigen politischen Diskurs beizutragen.