Mordzeuge Temme liest unsere Akten
Um diese Zusammenhänge öffentlich zu machen, organisierte die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT zusammen mit der Bildungsgesellschaft ‚lea‘ der GEW-Hessen am 22.2.2017 eine erste Veranstaltung an der Universität Kassel unter dem Titel „NSU-Aufklärung kommt nicht voran. Mordzeuge Temme liest unsere Akten. Weiter so?“. Die finanzielle und inhaltliche Unterstützung durch die GEW-Kreisverbände Kassel-Stadt und Land sowie den Bezirksverband der GEW wurde ein Charakteristikum aller Veranstaltungen von NACHGEFRAGT. In dieser ersten Informationsveranstaltung stellte Sonja Brasch von NSU-Watch Hessen, moderiert von Prof. Bernd Overwien von der Uni-Kassel, den Stand der Ermittlungen im Hessischen NSU-Untersuchungsausschuss zum Mord an Halit Yozgat dar. Über 160 Anwesende forderten daraufhin den Regierungspräsidenten auf, die Beschäftigung Temmes mit Personalangelegenheiten zu beenden. Außerdem wurde ein Katalog von Fragen an die Abgeordneten im Ausschuss verabschiedet. Im Unterschied zur HNA berichtete die HLZ, Zeitung der GEW, von da ab ebenso regelmäßig über unsere Veranstaltungen.
Mit der im Februar verabschiedeten Liste von Fragen begann eine Zusammenarbeit mit Politikern im Landtag, die sich im Laufe des Jahres 2017 ständig intensivierte und dauerhaft blieb. Besuche der Initiative bei Landtagsabgeordneten von Grünen, Linken und der SPD folgten, bei denen sich viele Fragen beantworten ließen und neue Fragen auftauchten. Linke und SPD stellten auch im Untersuchungsausschuss Fragen, die von der Kasseler Initiative NACHGEFRAGT formuliert worden waren. Im Laufe des Jahres 2017 organisierte die Initiative regelmäßige Besuche von Kasseler Bürgerinnen und Bürgern beim Untersuchungsausschuss in Wiesbaden.
Proteste beim Regierungspräsidium
In der Folge konnte von der Initiative erreicht werden, dass nicht nur überregionale Zeitungen, sondern endlich auch die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine über Temme und seine dubiose Rolle beim Mord an Halit Yozgat berichtete. Hilfreich war es dafür, dass während der documenta14 das Team von Forensic Architecture in einem Video deutlich machte, wie unglaubwürdig Temmes Aussagen vor den verschiedenen Untersuchungsausschüssen waren.
Die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT stellte den Besuchern der documenta14 einen Muster-Beschwerdebrief zur Verfügung, mit dem gegen die Beschäftigung Temmes protestiert werden konnte. Bei der Abschlussveranstaltung der documenta14 am 17.9.2017 diskutierten Mitglieder von NACHGEFRAGT mit anderen antifaschistischen Initiativen im Public Program der Society of Friends of Halit über weitere Perspektiven der Aufklärung.
Außerdem protestierte die Initiative auch direkt beim Regierungspräsidenten und beim Hessischen Datenschutzbeauftragten gegen Temmes Beschäftigung mit Personalangelegenheiten. Daraufhin kam es zu einer Diskussion über ihn mit seinen Vorgesetzten im Regierungspräsidium.
Vom Ende der Lügen
Am 21.9.2017 fand eine zweite Veranstaltung an der Universität Kassel unter dem Titel „Vom Ende der Lügen – Was folgt aus dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss?“ statt. Eine Einladung zur Teilnahme hatte der Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke abgelehnt. Die Landtagsabgeordneten Nancy Faeser (SPD), Jürgen Frömmrich (Grüne) und Herrmann Schaus (Linke) diskutierten mit der Journalistin Heike Kleffner, Ayse Güleç (Ini6April) und Sonja Brasch (NSU-Watch Hessen) sowie 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern über Erkenntnisse und Konsequenzen aus dem Hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. Auf dem Podium und von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde vor allem die schleppende Aufklärungsbereitschaft bei CDU und Grünen kritisiert. Andererseits wurde deutlich, dass es bereits eine ganze Reihe von Erkenntnissen über Versäumnisse bei der Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat gibt. Darüber, dass Andreas Temme ein unglaubwürdiger Zeuge ist, waren sich die Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer einig.
Im Oktober 2017 wurde Andreas Temme dann in aller Stille im Regierungspräsidium Kassel zum Dezernat Abfallwirtschaft versetzt. Ungeachtet dessen fordert die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT, dass die Rolle von Temme beim Kasseler NSU-Mord weiter geklärt wird und dass er aus dem Beamtenverhältnis entfernt gehört.
Die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT wurde zusammen mit anderen Initiativen aus Hessen im Februar 2018 zum 1. Runden Tisch der Landtagsfraktion der SPD in Frankfurt eingeladen, bei dem über Konsequenzen aus dem NSU-Untersuchungsausschuss beraten wurde. Dazu erarbeitete NACHGEFRAGT ein Positionspapier, in dem unter anderem die Gründung einer Stiftung für Demokratie, Aufklärung und politische Bildung – in Erinnerung an Enver Şimşek und Halit Yozgat vorgeschlagen wurde. Dieser Vorschlag wurde von SPD und Linken im Landtag unterstützt. In ihrem Sondervotum zum Untersuchungsausschussbericht und in Anträgen zum Landeshaushalt 2020 forderte die SPD eine solche Stiftungsgründung als Konsequenz aus den Erkenntnissen zum Mordfall.
Auf Einladung des Georg-Büchner-Clubs in Gießen berichteten zwei Mitglieder der Initiative am 17. März 2018 über ihre Arbeit. Das Stiftungsmodell wurde auch auf der Veranstaltung „Am Stern – Expert*innen des Alltags“ des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel am 10.7.2018 vorgestellt. NACHGEFRAGT steht seit Beginn der Arbeit dauerhaft im Kontakt mit anderen Initiativen in Kassel und Hessen.
Die Röske-VW-Sparkassen-Affäre
Seit Bekanntwerden einer exif-Recherche im Juli 2018 hat sich die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT intensiv mit dem Kaufunger Neonazi Stanley Röske und der Reorganisation rechtsterroristischer Strukturen (‚Combat 18‘) im Kasseler Raum beschäftigt. Dabei waren das ‚Vereinskonto‘, das Röske jahrelang bei der Kasseler Sparkasse unterhalten hat, und seine Beschäftigung bei einem Personaldienstleister in einer VW-Kantine im Fokus unseres Interesses. Ganz besonders viel Aufmerksamkeit erforderte die Haltung der Kasseler Sparkasse zu diesem Sachverhalt.
Nach Bekanntwerden der exif-Recherche (sogar in der Lokalzeitung HNA berichtet) haben wir uns offiziell an den Sparkassen-Vorstand gewandt und eine abwiegelnde Antwort erhalten, die an unserer Argumentation völlig vorbei ging. Die reguläre Zweckverbandsversammlung, bei der wir Flugblätter verteilen wollten, wurde sehr kurzfristig abgesagt (plötzliche Erkrankung der Versammlungsleiterin sowie andere plötzliche Unabkömmlichkeiten). Die vorbereiteten Flugblätter konnten wir zwecks Weiterleitung bei einer Vorstandsassistentin in der Lobby des Tagungshotels abgegeben. Beim Verlassen des Hotels wurden wir wie im „Leben der Anderen“ aus einem demonstrativ langsam fahrenden VW-Golf fotografiert.
Ein Kollege unserer Initiative hat daraufhin einen informellen Anruf aus dem Vorstand bekommen mit der frohen Botschaft, die Sparkasse würde sich ‚schon kümmern und wir dürften alle ruhig schlafen‘. Alles andere sei Bankgeheimnis. Zuletzt hat eine Kundin unter Berufung auf uns einen sehr persönlichen Brief an den Sparkassen-Vorstand geschrieben, der wiederum pauschal und unangemessen zurückgewiesen wurde Die Antwort der Sparkasse bestand nahezu identisch aus den gleichen Textbausteinen wie im anfänglichen Brief an uns.
Am 15. 10. 2018 hat dann der Stadtverordnete Ilker Sengül (Kasseler Linke) eine Anfrage zu dem Zusammenhang Combat 18 – Kasseler Sparkasse in die Stadtverordnetenversammlung eingebracht. Die Antwort des Kassler OB (Christian Geselle, SPD) folgte dem bekannten nichtssagenden Muster, indem konkrete Auskünfte unter Hinweis auf ‚das Bankgeheimnis‘ verweigert wurden und unter bewusster Missdeutung der Frage darauf hingewiesen wurde, dass die Sparkasse ja „nie ein Konto von Combat 18 geführt“ habe.
Resümierend lässt sich feststellen, dass das fragliche Konto mittlerweile klammheimlich geschlossen wurde. Die Sparkasse möchte aber offensichtlich um jeden Preis verhindern, dass dies öffentlich wird. Wir denken, dass die direkte Auseinandersetzung mit der Sparkasse damit ausgereizt ist. In einer ernüchternden Zwischenbilanz mussten wir leider konstatieren, dass wir ein exemplarisches Lehrstück demokratischer Feigheit vorgefunden haben.
Eine ähnliche „stille“ Lösung fand auch die Leitung von VW-Personaldienstleister ‚Autovision‘. Man machte Stanley Röske wohl das Angebot einer Bezahlung ohne Arbeitsleistung bis zum Auslaufen seines Zeitarbeitsvertrages. In der Folge gab es offensichtlich eine Aufarbeitung des Vorgangs und den Abschluss einer Betriebsvereinbarung gegen rechte Hetze und gegen das Zeigen von rechten Symbolen auf dem Werksgelände.
Verfassungsbruch durch Verfassungs“schutz“
Im Sommer 2018 peitschten Grüne und CDU ein neues Polizeigesetz und ein Verfassungsschutz-Gesetz durch den Hessischen Landtag. Wir erarbeiteten im Vorfeld eine umfangreiche Stellungnahme zu diesen Plänen und veranstalteten am 26. September 2018 eine Podiumsdiskussion zum Thema: Verfassungsbruch durch Verfassungs“schutz“ – die schleichende Aushöhlung demokratischer Grundsätze“ mit Rolf Goessner, (Internationale Liga für Menschenrechte), Nancy Faeser (MdL SPD Hessen), Hermann Schaus (MdL Linke Hessen,), Christian Kuschel (FDP) und Jochen Nagel (GEW Hessen). Als Moderator konnte der Nachfolger von Bernd Overwien auf dem Lehrstuhl für Politikdidaktik Andreas Eis gewonnen werden. Wiederum waren ca. 150 Menschen gekommen. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD-Spitzenkandidat) unterbrach seine Wahlkampftour für einen kurzen Besuch in der Veranstaltung. Die Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer kritisierten die Veränderungen im Polizeigesetz und im Verfassungsschutzgesetz, die CDU und Grüne Landtagsfraktionen im Sommer durchgepeitscht hatten. Kritisiert wurden Freibriefe für Abhöraktionen und den Einsatz krimineller V-Leute sowie die Erschwerung von Akteneinsicht in gespeicherte Informationen von Bürgerinnen und Bürgern. Kontrovers wurde darüber diskutiert, ob es möglich sei, den Verfassungsschutz zu reformieren (Faeser, Kuschel) oder ob er nicht abgeschafft werden müsste (Gössner, Nagel, Schaus).
Hickhack bei den Gedenkveranstaltungen in 2019 / Antrag „Demokratie Leben“ – Kommunale Partnerschaften
Als einen „verhängnisvollen Alleingang von Oberbürgermeister Geselle beim Gedenken an die Ermordung von Halit Yozgat am 6. April 2006“ kritisiert die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT das Gesprächsergebnis von Mitgliedern der Kasseler Initiativen NACHGEFRAGT und „Initiative 6. April“ mit dem Oberbürgermeister. Die Kasseler Initiativen waren einer Gesprächseinladung von Geselle zum 22.11.2018 gefolgt, um ein erneutes blamables Hickhack bei den Gedenkveranstaltungen wie im Frühjahr 2018 zu vermeiden. Oberbürgermeister Geselle bestand jedoch darauf, dass die Stadt kein Interesse an einer Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Initiativen habe. Originalton Geselle: „Sie können Ihre eigene Kundgebung machen, die Stadt wird nicht dabei sein.“ Bei dem Gespräch stellte sich heraus, dass die von Geselle als Alternative geplante Preisverleihung für wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Neo-Nazis oder Antisemitismus nur ansatzweise konzipiert war. Darüber hinaus solle es eine Kranzniederlegung am Mahnmal am Halitplatz geben, ebenfalls ohne Beteiligung der Initiativen. Die Kasseler Initiative NACHGEFRAGT bedauerte es sehr, dass durch den Alleingang des Oberbürgermeisters erneut im Jahr 2019 die offiziellen Gremien der Stadt Kassel und die Zivilgesellschaft im Gedenken gespalten wurden.
Am Ende des Gesprächs gelang es den Vertretern von NACHGEFRAGT darauf aufmerksam zu machen, dass es in 2020 ein neues Antragsverfahren des Bundesprogramms „Demokratie Leben – Kommunale Partnerschaften“ gab. Dazu war es notwendig, dass die Stadt eine „Interessensbekundung“ abzugeben hatte.. Die Referentin des Oberbürgermeistes versprach, sich darum zu kümmern. In der Tat wurde von der Stadt Kassel in der Folge diese Interessensbekundung beim Bund abgegeben, es dauerte jedoch bis zum Jahr 2021 und es bedurfte eines erneuten starken Druckes von NACHGEFRAGT damit an einem förmlichen Antrag gearbeitet wurde.
Gegen das Vergessen – Gefahr im Verzug
Rechte Netzwerke bei der Polizei, eine ‚Schattenarmee‘ mit Umsturzplänen für den Tag X bei der Bundeswehr, hasserfüllte Drohschreiben an politische Andersdenkende mit dem Absender ‚NSU 2.0‘, die Reorganisation verbotener Neonazi-Strukturen wie Blood&Honour – die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Das öffentliche Entsetzen bei der Aufdeckung solcher Skandale ist leider kurzlebig, die Mechanismen der Bagatellisierung und des Vertuschens dagegen sind vielfältig und greifen schnell.
Auch acht Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU blieben entscheidende Fragen zum NSU-Komplex offen. Weder der Mord an Halit Yozgat noch die Verstrickung des ehemaligen Verfassungsschützers Temme wurden hinreichend aufgeklärt. Auch der Abschlussbericht des hessischen Untersuchungsausschusses enthielt zahllose Hinweise auf die fatalen Folgen behördlicher Ignoranz und formulierte konkrete Handlungsempfehlungen, um demokratische Strukturen zu stärken und der Entstehung neuer neonazistischer Netzwerke entgegenzuwirken. Wirksame politische Konsequenzen zeichneten sich jedoch auch in der neuen Sitzungsperiode des Hessischen Landtags nicht ab. Die angebliche Reform des hessischen Verfassungsschutzes zielte sogar in eine falsche Richtung.
Dies war der Hintergrund für die nächste große Diskussionsveranstaltung in der Zusammenarbeit vieler Kasseler Initiativen. Unter dem Titel „Gegen das Vergessen – Gefahr im Verzug“ diskutierten am 28.3.2019 im Philipp-Scheidemann-Haus MDB Dr. Irene Mihalic (GRÜNE), MDL Hermann Schaus (LINKE), MDB Dr. Johannes Fechner (SPD), Seda Başay-Yildiz (Anwältin der Nebenklage im NSU-Prozess und durch „NSU 2.0“ bedroht). Die eigentlich ebenfalls vorgesehene MDB Petra Pau (LINKE) war aus persönlichen Gründen verhindert, realisierte aber trotzdem den Termin, der mit Kasseler Antifa-Initiativen vereinbart war, per „Live-Schalte“ in den Kasseler Schlachthof. Mit der Moderation von Armin Ruda (Medienprojektzentrum Offener Kanal) wurde bei der Diskussionsveranstaltung auf die Ergebnisse der zahlreichen Untersuchungsausschüsse zurückgeblickt. Hier zeigte sich auf der Bundes-Ebene große Gemeinsamkeit, gleichzeitig aber auch die Differenz zwischen den Grünen in Hessen und den Positionen der Grünen im Bund. Im Nachgang zu der Veranstaltung konnte die Initiative Forderungen formulieren, die für den Erhalt unseres Gemeinwesens prioritär erscheinen. Wir stellten die Idee von NACHGEFRAGT zu einer Stiftung für Demokratie, Aufklärung und politische Bildung in Erinnerung an Enver Şimşek und Halit Yozgat vor. Sie soll der weiteren Aufklärung des NSU-Komplexes und der politischen Bildung für die Stärkung demokratischer Strukturen dienen.
Gegen den Titel der Veranstaltung hatte es im Vorfeld bei linken Initiativen, die sich zur Vorbereitung des Gedenktags häufig getroffen hatten, Einwände gegeben. Das sei „Polizeisprech“ und unnötige Dramatisierung. Leider erwies sich der Titel als prophetisch und die Gefahr weit realer als von vielen Menschen geglaubt, denn drei Monate später, am 2.6.2019, wurde der Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke ermordet. Eine winzige Spur führte dann zu einem als vom Verfassungsschutz einmal als „inaktiv“ gleichzeitig jedoch auch in internen Akten als „brandgefährlich“ eingestuften Kasseler Neonazi, Stefan Ernst, der seit Herbst 2020 in Frankfurt vor Gericht stand. Das Urteil lautet auf „lebenslänglich mit der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld“. Sein Kumpan Markus Hartmann wurde jedoch lediglich wegen des Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Bewährungsstrafe verurteilt (Stand 4.2. 2021).
Gründung des Vereins NACHGEFRAGT e. V.
Der Mord an Walter Lübcke machte deutlich, dass die Neonazis in Nordhessen ein Dauerthema bleiben werden. Deshalb wurde in der Kasseler Initiative NACHGEFRAGT immer wieder darüber gesprochen, wie man die Struktur der Arbeit festigen und den Kreis der Mitarbeitenden erweitern könnte. Geprüft wurden verschiedene Gesellschaftsformen, wie die einer Stiftung, einer Genossenschaft oder die eines Vereins. Schließlich entschied der Initiativkreis sich dazu, zu einer Vereinsgründung mit dem Namen „NACHGEFRAGT für Demokratie, Aufklärung und politische Bildung“ für den 6. Juni 2019 einzuladen. Zweiundzwanzig Teilnehmer folgten dieser Einladung, von denen dreizehn sogleich Mitglied wurden. Bis zur Eintragung des Vereins beim Amtsgericht Kassel dauerte es noch fast einen Monat. Mit dem 15.10.2019 war dann die Eintragung erfolgt, wenig später erkannte das Finanzamt den Verein vorläufig als gemeinnützig an, am 25.11.2020 erfolgte die Freistellung von der Körperschaftssteuer rückwirkend für 2019. Damit war der Verein ab 2019 zur Erteilung von Spendenbescheinigungen berechtigt. Als erste Vereinsaktivitäten wurden die Durchführung eines Projekttags zu „Hatespeech“ an der Alten Landesschule in Korbach sowie eine Veranstaltung zu rechten Netzwerken geplant. Für beide Vorhaben gab es eine Förderung durch den Vizepräsidenten des Hessischen Landtags Dr. Ulrich Wilken.
Interview für den SWR am 19.8.2018: gesendet am 29.Oktober 2019
Kassel und die rechte Szene
Die Initiative Nachgefragt e.V. fordert Aufklärung, Von Christine Werner
Sendung: 29.Oktober 2019, 15.05 Uhr
Redaktion: Nadja Odeh, Regie: Günter Maurer, Produktion: SWR 2019
Die Journalistin Christine Werner führte ein einstündiges Interview mit Mitgliedern der Initiative über die Gründungsgeschichte und die bisherigen Aktivitäten. Es kann sowohl als Video über die SWR Mediathek (Link einfügen) als auch als .pdf Datei (Link einfügen) gefunden werden.
Nordhessische Neonazis – Gefahr durch rechte Netzwerke
Am 10. Okt. 2019 veranstaltete die Initiative in der neuen Rechtsform als Verein erneut eine Podiumsdiskussion an der Universität Kassel, diesmal in Verbindung mit dem Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie, dem Fachbereich 5 der Universität und weiteren Unterstützern. Unmittelbar vorher hatte ein Rechtsradikaler in Halle mehrere Menschen erschossen, nachdem er den Zugang zur Synagoge nicht erzwingen konnte. Wohl auch deshalb war der riesige Hörsaal 6 am Holländischer Platz mit über 260 Teilnehmern völlig überfüllt und die Polizei entsandte vorsichtshalber einen Streifenwagen. Moderiert von Armin Ruda diskutierten Daniel Göbel (Redakteur HNA), Katharina König (Landtagsabgeordnete Thüringen), Martin Steinhagen (Journalist) und Christopher Vogel (Mobiles Beratungsteam Hessen) über die nach wie vor große „Gefahr durch rechte Netzwerke in Nordhessen“ und in den angrenzenden Bundesländern. Es wurde deutlich, dass Kassel eine Schnittstelle und eine Durchgangsstation mobiler Nazis zwischen NRW, Südniedersachsen und Thüringen ist. Zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen organisieren in Nordhessen Konzerte, verdeckte Treffen und einzelne Gewalt- und Terrorakte. Es gab und gibt auch Kontakte von Nazis ins Milieu der Hooligans beim KSV und in die AfD.
Workshop gegen Hatespeech
Ein Zeitungsbericht über die Veranstaltung zu rechten Netzwerken hatte einen Lehrer aus Korbach auf die Initiative aufmerksam gemacht. Er bat um Unterstützung für die politische Bildung an seinem Gymnasium. NACHGEFRAGT vermittelte daraufhin einen Projekttag zu Hate Speech, der in der Kooperation Alte Landesschule Korbach, Jugendhaus Korbach und Die Kopiloten e.V. am 26. November 2019 durchgeführt wurde. Die Ziele des Projekttags waren:
Die Schüler*innen
- kennen die Definition von Hate Speech (strafrechtlich relevante und diskriminierende Äußerungen und der Unterschied zu Mobbing),
- werden für Formen von Diskriminierung sensibilisiert,
- wissen um individuelle und gesellschaftliche Folgen von Hate Speech und kennen Handlungsoptionen.
Folgende Themen wurden angesprochen:
1 Kennenlernen des Mediennutzungsverhalten der Teilnehmenden
2 Was ist Hate Speech?
3 Diskriminierungssensibilisierung
4 Vertiefung durch Kommentardekonstruktion
5 Folgen von Hate Speech für Einzelpersonen und Gesellschaft
6 Individuelle Handlungsmöglichkeiten gegen Hate Speech
Kasseler Erklärung
Auf Vorschlag von DGB und NACHGEFRAGT entstand die größte Leistung in der kurzen Zeit des Bestehens unseres Vereins. Es war die Formulierung der „Kasseler Erklärung“ zusammen mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten des „Bündnis gegen Rechts“ und die Verbreitung dieser Erklärung. In nur drei Monaten unterzeichneten insgesamt 80 Einzelpersonen und 40 Unternehmen und Organisationen diese Erklärung. Viele erfahrene Aktivisten im Bündnis gegen Rechts bescheinigten uns einen großen Erfolg. Die Kasseler Erklärung hat zu einer besseren Vernetzung innerhalb des Bündnisses geführt. Die meisten der Unterzeichner spendeten größere oder kleinere Geldbeträge, so dass am 14. Dezember 2019 eine halbseitige Anzeige mit dem Text der Kasseler Erklärung und den Namen der Unterzeichner in der HNA erscheinen konnte.
Kultur gegen Rechts (Arbeitskreis aus der Kasseler Erklärung)
Aus der erfreulichen Zusammenarbeit für die Kasseler Erklärung entwickelten einige Personen die Idee eine Kulturveranstaltung auf dem Rainer-Dierichs-Platz am Kulturbahnhof im Juni 2020 gemeinsam mit anderen Initiativen anzustreben. Für das Fest interessierten sich ebenfalls Projekte aus dem Kulturbahnhof, der Kasseler Jugendring, die Aktivisten von Nach dem Rechten sehen und die beiden Kirchen.
Gedenkgottesdienst 4.6.2020
Auch den Impuls für einen ökumenischer Gottesdienst zum Gedenken an die Ermordung Walter Lübckes am 2. Juni 2019 setzte der Arbeitskreis „Kultur gegen Rechts“. Die Evangelische und die Katholische Kirche in Kassel luden in Kooperation mit dem Arbeitskreis ein, am 4. Juni, um 18:30 Uhr in der Kirche St. Elisabeth am Friedrichsplatz gemeinsam mit der Familie Lübcke zu gedenken. Aufgrund der Coronapandemie und den strengen Schutzbestimmungen war der Gottesdienst nur mit eng begrenzter Teilnehmerzahl und nach Voranmeldung möglich. Neben der Familie Lübcke und den Demokratie-Initiativen waren viele Vertreter des politischen Lebens in Kassel gekommen an ihrer Spitze Justizministerin Eva Kühne-Hörmann und Regierungspräsident Hermann-Josef Klüber. Für den von Pastoralreferent Stefan Ahr und Dekan Dr. Gernot Gerlach gestalteten Gottesdienst gab es eine musikalische Begleitung durch Regionalkantor Thomas Pieper (Orgel) und Judith Gerdes (Oboe). Im Anschluss an den Gottesdienst nutzten viele Gäste die von NACHGEFRAGT zur Verfügung gestellten Blumen, um am Regierungspräsidium Walter Lübcke zu Gedenken.
Aufruf Demokratie stärken (10 Punkte) Unterstützung und Veröffentlichung im Bündnis gegen Rechts
NACHGEFRAGT beteiligte sich im Sommer 2020 an dem Aufruf „Demokratie stärken“, in dem Demokratie-Initiativen aus Hessen mit einem 10-Punkte Katalog mehr Engagement der hessischen Landesregierung und des Landtags bei der Bekämpfung rechtsradikaler und rassistischer Gewalt einfordern.
Bündnis gegen Rechts – Gemeinsam gegen rechten Terror! 20.07.2020
Seit 2018 arbeitete die Initiative im Bündnis gegen Rechts kontinuierlich mit. Als die Partei „Die Rechte“ für den 20.7.2020 eine Demonstration anmeldete, mobilisierte das Bündnis zur größten Demonstration, die es in Kassel je gegeben hatte. Ca. 14.000 Menschen stellten sich den Rechten entgegen. Es wäre zu keiner Demonstration der Rechten gekommen, wenn nicht Polizei und KVG ihnen einen Bus zur Verfügung gestellt hätten, um sie zum Demonstrationsort in der Unterneustadt zu bringen, wo sie unter Polizeischutz eine Stunde lang in einer Nebenstraße auf und ab marschierten. Es wurde deutlich, dass das Bündnis sich nicht nur auf die Verhinderung von Aufmärschen der Rechten Szene konzentrieren darf.
„Nach dem Rechten sehen“, Festivalbeitrag am 10.9.2020
Die kontinuierlichen Gespräche im Kulturarbeitskreis führten zu einer engeren Zusammenarbeit von NACHGEFRAGT mit „Nach dem Rechten sehen“, einem kooperativen Projekt in der Nordstadt. In dem dreitägigen Festival vom 9. bis 11. September in der Kasseler Nordstadt übernahm unser Verein die Gestaltung eines Programmtags am 10.9.2020. Drei Angebote wurden realisiert: In einer ersten Runde diskutierten die Landtagsabgeordneten Nancy Faeser und Hermann Schaus mit Gerald Warnke und Sonja Brasch, moderiert von Lotte Laloire (Response), über die Perspektiven des Landtags-Untersuchungsausschusses zum Mord an Dr. Walter Lübcke. Bei dieser Veranstaltung wurde die maximale Besucherzahl des großen Veranstaltungssaals im Kulturzentrum Schlachthof unter Beachtung der Hygiene-Bedingungen ausgeschöpft. Die Abgeordneten und die Experten sahen Anzeichen dafür, dass für den neuen Untersuchungsausschuss mit einer besseren Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen des Landtags zu rechnen sein könnte, als dies im NSU-Ausschuss der vorigen Landtagsperiode der Fall war. Zuschauerfragen machten deutlich, dass das Interesse der Öffentlichkeit an der Arbeit des Ausschusses groß sein wird. Im Anschluss an die Podiumsdiskussion wurden in einem Gespräch im kleinen Kreis die Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen NACHGEFRAGT und den Landtagsabgeordneten diskutiert.
Für das Programm des Kasseler „Herrenkonfekts“ war der Zuschauerandrang nicht sehr groß. Allerdings waren die beiden Protagonisten erfreut, überhaupt einen kulturellen Beitrag leisten zu können und ein (kleines) Honorar von NACHGEFRAGT zu erhalten.
Großen Andrang gab es dagegen für die dritte Veranstaltung am 10. September „Nur Männersache? – Frauen in der extremen Rechten“, in der Sonja Brasch eine Übersicht über die Rolle der Frauen in der rechten Szene Nordhessens und den angrenzenden Bundesländern gab. Sehr viele junge Frauen waren im Publikum vertreten. Es wurde deutlich, dass dieses Thema bisher zu wenig Beachtung gefunden hat. Als Konsequenz hat sich eine Arbeitsgruppe bei NACHGEFRAGT gebildet, die in 2021 weitere Veranstaltungen über Frauen in der Neuen Rechten plant, zum Beispiel über „rechte Influencerinnen auf Youtube“.
Begleitung des Untersuchungsausschusses
Parallel zum Festival wurde am 10.9.2020 ein Interview von Lukas Kiepe mit Torsten Felstehausen zur Arbeit des Lübcke-Ausschusses im Offenen Kanal durchgeführt, initiiert von NACHGEFRAGT. Für eine zweite Diskussionsveranstaltung über den Untersuchungsausschuss im Offenen Kanal mit Günter Rudolph und Vanessa Gronemann, moderiert von Lukas Kiepe, trug dann das Evangelische Forum die Verantwortung. Michael Lacher (NACHGEFRAGT) war als Experte dazu geladen. Zwischen NACHGEFRAGT und dem Evangelischen Forum wurde vereinbart, in 2021 eine abwechselnd zu organisierende Sendereihe über den Untersuchungsausschuss (UNA 20/1) zu gestalten.
Jahreshauptversammlung 2020 – Ausblick 2021
Unter den außergewöhnlichen Umständen des Corona-Jahres gelang es sogar, eine Jahreshauptversammlung von NACHGEFRAGT e. V. am 23.10.2020 in den Räumen des Offenen Kanals durchzuführen. Sie war aus vereinsrechtlichen Gründen notwendig, um die dauerhafte Anerkennung der Gemeinnützigkeit zu erreichen. Es konnten jedoch auch die Perspektiven der Arbeit für 2021 vorgestellt und Planungen beschlossen werden. So wird der Verein sich mit der Sprache und den Strategien der „Neuen Rechten“ in einer Veranstaltung beschäftigen, für die die österreichische Expertin Natascha Strobl bereits zugesagt hat. Die oben beschriebene Veranstaltungsreihe zu „rechten Frauen“ wird weiter vorbereitet, eine der Veranstaltungen soll wieder im Rahmen des Festivals „Nach dem Rechten sehen“ stattfinden. Die Planung eines Kulturtags auf dem Rainer-Dierichs-Platz soll fortgesetzt werden.
Die Sitzungen des Arbeitskreises „Kultur gegen Rechts“ finden weiter statt, entweder in Präsenz oder online als Video-Konferenz. Das Gleiche gilt für die Vorstandssitzungen von NACHGEFRAGT e. V. Unter erschwerten Bedingungen wird auch die Begleitung des Untersuchungsausschusses fortgesetzt. Nicht zuletzt auf Druck unseres Vereins wird wohl auch eine (begrenzte) Zahl von Zuschauern bei den Sitzungen des Ausschusses anwesend sein können, nachdem in 2020 gar keine Besucher im Landtag zugelassen waren. Auch an der virtuellen „Zukunftskonferenz“ des DGB am 7.11.2020 nahmen mehrere Vorstandsmitglieder teil. Ein Gespräch über gemeinsame Vorhaben mit dem DGB wird am Beginn von 2021 stattfinden.
Kooperationen:
Mit Torsten Felstehausen, MdL, sprachen Mitglieder der Initiative am 7. Januar über die Perspektiven des Untersuchungsausschusses 20/1 zum Mord an Dr. Walter Lübcke. Es wurde eine kontinuierliche Begleitung des Ausschusses verabredet.
Am 24.02.2020 trafen Elisabeth Gessner, Horst Paul Kuhley (NACHGEFRAGT), Wolfgang Schwerdtfeger (NACHGEFRAGT / ASJ), Lukas Kiepe (Wissenschaftsforum) mit Günter Rudolph (MdL) zusammen. Die Themen waren: das Programm Partnerschaften für Demokratie, das Projekt Kulturfest am 27.6.2020 am Kulturbahnhof, das Untersuchungsausschuss-Gesetz im Hess. Landtag sowie der zukünftige Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke.
Die beiden Vorsitzenden des Vereins beteiligten sich an einem Bildungsträgerworkshop der Friedrich-Ebert-Stiftung, der am 23. September 2020 in Frankfurt am Main stattfand. Dort wurden Konzepte für eine Bildungsarbeit diskutiert, die unter den eingeschränkten Corona-Bedingungen und mit medialer Unterstützung stattfinden muss.